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10.5.2023 | Pädagogische Hochschule

Klingende Beziehungsarbeit

Gelingender Gesangsunterricht unterstützt den Aufbau eines positiven, musikalischen Selbstkonzeptes bei angehenden Lehrpersonen und Schüler*innen.

«Ich bringe heute eine irritierte Stimme mit», sagt Nathalie B., angehende Lehrperson für die Primarstufe, als sie das Musikzimmer an der Pädagogischen Hochschule FHNW in Windisch betritt. Sie hat leichte Halsschmerzen, ihre Stimme ist heiser. Und nun steht Einzelgesangsunterricht bei Roger Molnar an.

Die Situation ist ein willkommenes Beispiel, um zu zeigen, wie man als Lehrperson auch an solchen Tagen trotzdem Singen unterrichten kann. Roger Molnar gibt Nathalie ein paar Aufwärmtipps und schon hört man es ihrer Stimme kaum mehr an, dass gerade noch ein Frosch im Hals war. Irritierte Stimmen, von Heiserkeit bis Stimmbruch; zudem: Unsicherheit, Schüchternheit, Scham – der Singunterricht auf der Primar- wie auch auf der Sekundarstufe ist herausfordernd. Da sind einerseits die Hürden und Vorbehalte bei den Schüler*innen und andererseits die überholten Konzepte der Lehrpersonen, beides erzeugt sich wechselseitig – und beschäftigt fachwissenschaftliche und fachdidaktische Aspekte der Ausbildung gleichermassen.

«Wenn man einen heiseren Tag hat, dann einfach nicht die Stimme forcieren, sondern möglichst locker und leicht bleiben. Die Stimmbänder schliessen sich nicht gleich, weil sie irritiert sind. Dann gilt, nicht räuspern, nicht flüstern, viel Tee trinken.»

Roger Molnar

«Etwas vereinfacht gesagt: Die Schüler*innen sind im ‘klassischen’ Setting von der Angst des Ausgelachtwerdens gelähmt. Stichwort Leistungskultur. Und die Lehrpersonen versuchen auf Biegen und Brechen an richtiger Atmung, Struktur und ihren Etüden festzuhalten», erzählt Roger Molnar. Was dabei vergessen geht: «Musizieren ist gemeinsames Spielen. Der Unterricht darf dialogisch, emotional und berührend sein. Und Spass machen. Ziel ist es, ein positives Selbstkonzept in Bezug auf die eigene Stimme zu fördern.»

Sicherheit gewinnen

Molnar, der neben seiner Tätigkeit als Dozent für Gesang selbst in verschiedenen Pop-Formationen singt, sitzt am Flügel und spielt das Stück, das Nathalie sich für heute ausgewählt hat, um daran zu arbeiten. Die junge Studentin hat während zwölf Jahren intensiv Klavier gespielt und sich nun im Studium an der PH für Gesang entschieden, «weil ich als Lehrperson die Lieder ja nicht nur begleiten, sondern auch richtig vorsingen will. Ich weiss nicht, ob ich genügend Selbstbewusstsein hätte, um vor einer Klasse zu singen, wenn ich nicht wüsste, wie ich es richtig machen und anleiten kann.» Um in diesem Punkt Sicherheit zu gewinnen, dazu ist Molnar da. Neben ein paar technischen Kniffs und der Stärkung der bestehenden Kenntnisse und Fähigkeiten zeige er auf, wie die Studierenden ihre Kompetenzen erweitern können und räume vor allem die negativen Selbsterfahrungen beiseite, die den Stimmen im Wege stehen. Seien die einmal weg, entwickle sich das Singen der angehenden Lehrpersonen beinahe wie von selbst. Das bestätigt auch Nathalie, die durch die zwei Semester Gesangsunterricht viel an Sicherheit gewonnen hat.

Die grösste Gefahr für die Singfreude geht nach Molnar von negativem Feedback und unqualifiziertem Unterricht aus, in dem Kinder im Singen exponiert werden – an den Folgen arbeitet er mit seinen Studierenden täglich, die in ihrer Schullaufbahn oft genau solche Erfahrungen gemacht haben.

Das Lied, das beide einstudieren, sitzt beinahe. Noch einzelne Passagen werden gefeilt. Nathalie nimmt das Stück mit ihrem Smartphone auf, einmal mit Molnars Gesang und Begleitung, einmal eine Karaokeversion nur mit Piano, damit sie zu Hause üben kann. «Wenn du es kannst, dann können wir auch mal darüber improvisieren oder es neu arrangieren», sagt Molnar. Das Lernziel bestimmt letztlich die Studentin. Zum Schluss gibt ihr Molnar noch einen Erfahrungstipp mit in die Woche: «Wenn man einen heiseren Tag hat, dann einfach nicht die Stimme forcieren, sondern möglichst locker und leicht bleiben. Die Stimmbänder schliessen sich nicht gleich, weil sie irritiert sind. Dann gilt, nicht räuspern, nicht flüstern, viel Tee trinken.»

Gesangslehrer steht bei Student, der sitzend Gitarre spielt

Roger Molnar (r.) unterstützt einen Studenten im Gesangsunterricht.

«Unser Fachverständnis ist auch ein didaktisches Verständnis», sagt Molnar zwischen zwei Lektionen. «Durch Erfahrung entstehen Wissen und Motivation. Meine Devise: ‘knowledge-in-singing’ geht vor ‘knowledge-on-singing’.»

Im Musikraum hängt ein Rahmenmodell für das Fach Musik (es gilt sowohl für die Lehrpersonenbildung wie auch für den Schulunterricht): ein Spektrum zwischen konservatorischen und laboratorischen Aspekten. Während der konservatorische Bereich auf Struktur, Stück und Anleitung fokussiert, bietet das Laboratorium Raum für spontanes und individuelles Lernen. Als Lehrperson für Musik gilt es, den eigenen Unterricht in diesem Spektrum zu verorten und eine gesunde Balance zu finden. «Musikmachen und gleichzeitig wahrnehmen, was mit der Klasse und mit den einzelnen Individuen passiert, ist enorm anspruchsvoll», sagt Molnar.

Die Rolle des Stimmbruchs

Und auf Sekundarstufe kommt noch eine weitere Schwierigkeit hinzu, die gerade fürs Singen nicht unerheblich ist: der Stimmbruch. Davon sind nicht nur die Jungs betroffen, auch die Stimmen der Mädchen sind in dieser Phase Veränderungen unterworfen, die für Aussenstehende vielleicht etwas weniger deutlich hörbar, aber dennoch vorhanden sind, und die Pubertierenden verunsichern.

Pop (...) ist auf seine eigene Art gesanglich komplex (...): «Es ist wie beim Gewichtheben, die Stimme kann auch Schaden nehmen. Es sind komplexe Bewegungen.»

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Gabriel W., angehender Sekundarlehrer für Musik, selbst erfahrener Sänger, ehemals in einem prominenten Knabenchor, hat während seiner ganzen Pubertät gesungen – sein Umfeld wusste, wie mit seiner Stimmtransformation umzugehen war. Davon kann er einiges in sein Studium mitnehmen. «Auf der Primarstufe haben die Schüler*innen eine gemeinsame Stimmlage. Auf der Sekundarstufe muss ich als Lehrperson auf bis zu fünf unterschiedliche Rücksicht nehmen», weiss Gabriel. Seine klassisch geschulte Stimme ist eindrücklich, doch gerade bei Pop-Songs, die nahe an der Lebenswelt der Jugendlichen und somit beliebte Unterrichtsthemen sind, wirkt sie etwas fremd. Die Lieder tönen dann nicht nach Pop, eher nach Oper.

Und Pop, das Fachgebiet von Molnar, ist auf seine Art gesanglich komplex. «Was ist es, was Ed Sheeran macht? Kann man thematisieren, aber Vorsicht: Es ist wie beim Gewichtheben, die Stimme kann auch Schaden nehmen. Es sind komplexe Bewegungen.» Für Sekundarschüler*innen oftmals zu komplex und deshalb auch frustrierend.

Molnar spielt am Piano «Lean on me» und Gabriel geht über die (sehr breite) Komfortzone seiner Stimme hinaus. «Die Jugendlichen sind kritisch und wollen, dass die Lehrperson auch schwierige Passagen singen kann.» Da er im Refrain selbst an die Grenzen stösst, bemerkt er: «Den Chorus kann ich meinen Schüler*innen so nicht zumuten.» Molnar stimmt ihm bei. «Finden wir heraus, wie man das singbar machen kann. Das heisst, ausprobieren. Twangen, hauchen, versuchen, es im Stil von Bill Withers zu singen.» Das bedeutet auch, dass sie das Lied transponieren müssen: «F-Dur statt C-Dur, das könnte für eine Sek-Klasse gehen», schätzt Gabriel. «Und die im Stimmbruch tief singen lassen», ergänzt Molnar. «Lean on me» – Musikunterricht ist definitiv Beziehungsarbeit.

Michael Hunziker

(Foto: Christian Irgl)

Der Artikel erschien in «Das Heft», Ausgabe Nr. 9 (2023) zum Thema «Fachdidaktiken und Fachwissenschaften»

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