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Besuch in der Lernlandschaft

13.2.2020 | Pädagogische Hochschule

Selbstgesteuertes Lernen heisst Verantwortung übernehmen – Anschauungsunterricht in Wohlen.

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Selbst gesteuertes Lernen schliesst eine enge Begleitung der Lehrperson nicht aus: Matthias Hehlen mit einer Schülerin. Foto: Daniel Desborough

Eine Delegation von Lehrpersonen aus Belgien ist an einem kalten Wintertag nach Wohlen gereist. Sie stehen vor einem Industriebau und wollen etwas zu neuen Unterrichtsformen erfahren. Im Gebäude hat sich neben Gewerbebetrieben die Bezirksschule Wohlen eingemietet und führt hier in den grossen loftähnlichen Räumen drei Lernlandschaften.

«Was ist guter Unterricht?»

Paul Bitschnau, Wohlener Schulleiter, erklärt den Gästen: «Wir haben uns schon seit etlichen Jahren mit der Frage ‹Was ist guter Unterricht?› beschäftigt. Daraus ergaben sich  intensive Diskussionen um eine zukunftsfähige Schule.» Konkret: Mit welcher Unterrichtsform kann man der Heterogenität der Schülerinnen und Schülern begegnen und den Herausforderungen der Gesellschaft, den Erkenntnissen der Neuro-Hirnforschung und den veränderten Lernformen gerecht werden? Dass das Konzept «Lernlandschaft» Potenzial zur Expansion hat, beweist auch das Interesse der belgischen Delegation. Das Kollegium aus dem ostbelgischen Eupen holt sich in Wohlen Inspirationen. Die mitgereisten Lehrpersonen fotografieren Stundenpläne und fragen detailliert bei Paul Bitschnau nach: «Wie lange sind die Jugendlichen in der Lernlandschaft?» «Ein Viertel ihrer Zeit, die anderen drei Viertel  machen Inputlektionen in Schulzimmern aus.» «Wie lange ist die Lernlandschaft geöffnet?» «Von 7.30 bis 17 Uhr.» «Sind die Jugendlichen freiwillig in diesem Modell?» «Ja, klar.»

Die Rolle der Lehrperson ändert sich

Etienne Gengler, Schulleiter aus Eupen, hatte Lernlandschaften bereits vor zwei Jahren durch die Pädagogische Hochschule FHNW kennen gelernt, als er auf der Suche nach anderen Unterrichtsformaten war: «Ich wollte unsere Schule auf den aktuellen Stand der Lernforschung bringen. Bei uns wird nun Motivation gross geschrieben.» Seine Schule hat vor ein paar Wochen einen Pilot gestartet, bei dem zwei Klassen in Lernlandschaften «unterrichtet werden». Dass diese Passivformulierung im Zusammenhang mit Lernlandschaften inhaltlich nicht mehr ganz richtig ist, wird klar, wenn man sich das Konzept genauer anschaut: Das Setting ist konsequent auf selbstorganisiertes Lernen fokussiert, das heisst, die Schülerinnen und Schüler entscheiden innerhalb der Zeit in der Lernlandschaft selbst, wann sie für welche Fächer arbeiten. Zudem wird das kooperative Lernen unter den Jugendlichen gefördert. Auch die Rolle der Lehrperson ändert sich: Neben «herkömmlichem » Unterricht in den Inputlektionen wird sie zu einem Lerncoach, der individuell auf die Schülerinnen und Schüler  eingehen kann.

Lernlandschaft ist kein Selbstläufer

Dass die neuen Freiheiten, die das Konzept mit sich bringt, gerade für neue Schülerinnen und Schüler anfänglich ungewohnt sind, gibt Fabienne Blunschi zu bedenken. Sie hat ihre Masterarbeit zum Thema geschrieben: «Generell ist die Motivation in den Lernlandschaften hoch. Aber es gibt phasenweise Durchhänger. Mich interessierte, welche Aspekte die  Motivation unterstützen und welche sie beeinträchtigen», erzählt die Absolventin der PH FHNW, die an der Schule Wohlen derzeit Sport unterrichtet. «Die ruhige Arbeitsatmosphäre und die persönlichen Arbeitsplätze werden von allen sehr geschätzt, was das individualisierte Lernen unterstützt,» sagt sie. Es gefalle den Schülerinnen und Schülern, im eigenen Tempo und zeitlich flexibel etwas zu erarbeiten und auch dass sie jederzeit auf sie abgestimmte, persönliche Unterstützung einholen können, trage viel zu ihrer Zufriedenheit bei. Entsprechend sind auch die negativen Faktoren jene, die ihnen wenig Auswahl und Kreativität ermöglichen. «Die Schüler brauchen interessant gestaltete Aufgaben, in die sie sich vertiefen können. Sie wollen kognitiv gefordert werden und ihre Energien nicht in reine Fleissaufgaben investieren», stellte Blunschi fest. «Sie wünschen sich, in einen Lern-Flow zu kommen.»

Begleitete Freiheiten

Kommt das wirklich gut, wenn man die Jugendlichen einfach machen lässt? Matthias Hehlen, Lehrer für Geschichte und Deutsch, erklärt, dass die gewährte Autonomie eine enge Begleitung nicht ausschliesst. «Wir geben den Schülerinnen und Schülern auf Vorschuss viel Vertrauen. Trotzdem müssen wir wissen, wer wo steht.» Und sein Kollege Michael Plaukovits, der ebenfalls in der Lernlandschaft unterrichtet, betont die Beziehungsqualität, die sich aus dem Setting ergibt: «Ich weiss besser Bescheid über die Sorgen der Jugendlichen und kann jederzeit individuell auf sie zugehen.» Plaukovits steht wie die anderen Lehrpersonen jeden Tag mit seinen Schülerinnen und Schülern durch die Arbeit in der Lernlandschaft in Kontakt, auch wenn sein Fach nicht auf dem Stundenplan steht. Er ist überzeugt, dass Lernlandschaften sowohl den Leistungsschwächeren wie auch den Leistungsstärkeren entgegenkommen: «Den einen kann ich mit weiterführenden Materialien helfen, die anderen mit individueller Förderung begleiten.»

In «terrain inconnu» investieren

Die Lehrpersonen aus Belgien gehen interessiert durch die Lernlandschaft, die ein bisschen einem Grossraumbüro gleicht – die Arbeitsplätze sind individuell gestaltet, Fussballidole, Pferde- und Mountainbike-Fotos hängen an den Seitenwänden. Sie fragen die Schülerinnen und Schüler nach ihren Erfahrungen und alle antworten dasselbe: Die Jugendlichen können sich Schule gar nicht mehr anders vorstellen. Auf Fragen, ob sie die Lernzeit nicht für irgendetwas anderes ausnutzen wie etwa Fussballresultate im Internet checken oder heimlich gamen, reagieren sie etwas verständnislos. Wer die Verantwortung für sein Lernen selbst trägt, trickst sich nicht selber aus, könnte man schliessen. Etienne Gengler ist überzeugt: «Es lohnt sich auf jeden Fall, in dieses «terrain inconnu» zu investieren.»

- Michael Hunziker -

«Gemeinsam Lernerfolg organisieren»

Michele Eschelmüller, Leiter der Beratungsstelle für Unterrichtsentwicklung und Lernbegleitung an der Pädagogischen Hochschule FHNW

Wie haben sich die Lernlandschaften geschichtlich in der Schweiz entwickelt?

Um die Jahrtausendwende haben verschiedene Schulen in der Ostschweiz innovative Unterrichtskonzepte entwickelt und aufgrund ihrer strukturellen Herausforderungen überlegt, wie sie die knappen Ressourcen und Pensen besser organisieren können.

Welches pädagogische Verständnis liegt den Lernlandschaften zugrunde?

In Lernlandschaften arbeiten meist zwei bis drei Klassen in einem grossen Schulzimmer. Entsprechend sind mehrere Lehrpersonen anwesend, die verschiedene Aufgaben unter sich aufteilen können. Das ermöglicht es, besser zwischen verschiedenen Leistungsniveaus innerhalb einer Klasse zu differenzieren. Lernlandschaften liefern damit auch Antworten auf die Frage, was mache ich mit Schülern, die mehr Erklärungszeit brauchen oder mit solchen, die den Stoff ziemlich schnell verstehen? Wie organisiere ich die Erklärphase, die  Übungsphase? In der Lernlandschaft arbeiten alle an ihrem individuellen Arbeitsplatz in ihrem spezifischen Tempo nach ihren Fähigkeiten, während mehrere Lehrpersonen punktuell unterstützen können. Die Kernthemen sind also Individualisierung, Differenzierung und Selbststeuerung. Die Schüler sollen lernen, vermehrt selbstständig zu denken und zu arbeiten, wobei die Lehrperson unterschiedliche Ausgangslagen schaffen muss, damit sie das lernen.

Wann macht es für eine Schule Sinn, eine Lernlandschaft zu gestalten?

Es geht primär um das genannte Grundprinzip. Es lohnt sich für jede Schule, sich damit auseinanderzusetzen. Wie können wir Selbststeuerung erhöhen und die Schüler und Schülerinnen für ihr Lernen mitverantwortlich machen? Das ist erst einmal nicht eine Frage des Raumes.

Lernlandschaften sind also nicht per se die Lösung für pädagogische Probleme?

Nein, wichtig ist das Lehr-/Lernverständnis, das sich eine Schule erarbeitet. Lernlandschaften bieten diesbezüglich zwar viele Vorteile, aber man muss sich bewusst sein, dass es auch Nachteile gibt. Sie sind wie ein Grossraumbüro mit allen Schwierigkeiten, die dazu gehören. So herrscht in den meisten Schulen in der Lernlandschaft eine sogenannte Flüsteratmosphäre, damit es nicht zu laut wird, wenn Schüler zusammenarbeiten. Trotzdem muss man in bestimmten Unterrichtssituationen auch laut reden können. Da haben Lernlandschaften ein paar Nachteile, die durch Ausweichräume kompensiert werden müssen.

Was ist unter «Tiefenstrukturen des Lernens» zu verstehen?

Einfach ausgedrückt, sind Tiefenstrukturen so etwas wie die verborgene Qualität hinter der Oberflächenstruktur (organisatorische Bedingungen, auch Ermöglichungsstruktur genannt). Ein Beispiel: Wir wissen, dass Schülerinnen und Schüler mit kognitiv herausfordernden Lernaufgaben besser lernen. Sogenannte Fermi-Aufgaben beispielsweise (nach
dem Physiker Enrico Fermi) sind ergebnisoffen, haben verschiedene offene Variablen und lassen die Schüler kreativ arbeiten. Zu einer funktionierenden Tiefenstruktur gehört aber auch eine Kultur des gegenseitigen Wertschätzens. Eine Umgebung, in der die Schüler merken, die Lehrperson will vor allem meine Fortschritte dokumentieren und mit mir gemeinsam Lernerfolg organisieren. Gelang es uns in den 90er-Jahren mit den erweiterten Lernformen, Schüler zu aktivieren, selbstständig zu arbeiten, fokussieren wir heute noch mehr auf die Verstehenstiefe. Schüler und Schülerinnen sollen lernen, selbstständiger zu arbeiten und dabei viel zu verstehen.

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