15.10.2020 | Pädagogische Hochschule
Drama als Lernprozess
Zwei Studierende der PH FHNW ergründen mit ihren Schüler*innen komplexe Themen theatralisch.
Die grosse Pause ist just vorbei und die Kinder stürmen ins Schulzimmer zurück, das aber in der Zwischenzeit zum Firmensitz der «3B-Technology» geworden ist. «Kommt, wir haben ein Meeting» ruft die Lehrerin Anja Rasson, die in einem schwarzen Businessjackett vor dem aufgeklappten Laptop sitzt und noch kurz die wichtigsten Mails aus Übersee checkt. «Leute, heute muss es sprudeln», mahnt sie, «wir haben eine wichtige Deadline einzuhalten, die Lancierung unseres Handys steht an.» Und auch die Kinder sind von einer Sekunde auf die andere in ihrer Rolle – als Produktdesignerinnen, Marketingplaner oder Finanzspezialistinnen.
An diesem Morgen steht in der Klasse 3 B in Rohr das Thema Menschenrechte und wirtschaftliche Zusammenhänge auf dem Plan. Die verschiedenen Produktions- und Vermarktungsschritte einer Handyfirma sollen besprochen und deren Auswirkungen auf die Arbeitsbedingungen in den Zulieferländer aufgezeigt, oder besser, durchgespielt werden. Denn hinter dieser Unterrichtseinheit steht das didaktische Konzept des «process drama», das die beiden angehenden Lehrerinnen Anja Rasson und Heba Bajwa für ihre Bachelorarbeit zum Abschluss ihres Studiums aufgreifen und für sich weiterentwickeln.
«Es geht dabei darum, ein Unterrichtsthema mit der Klasse durch Drama zu bearbeiten. Wir haben kein Endprodukt auf das wir hinarbeiten, sondern der Prozess steht im Vordergrund, auf dem wir dann aufbauen», sagt Heba Bajwa und ihre Kollegin ergänzt: «Dabei schlüpfen die Kinder und wir Lehrpersonen in andere Rollen. Die Kinder leiten wir kurz an und lassen sie dann in ihrer Rolle das Thema durchspielen.» Das Thema steht im Kontext der Bildung zur Nachhaltigen Entwicklung (BNE) und den beiden Lehrerinnen ist es ein Anliegen, keine moralisch-vorgefertigten Lösungen bereitzuhalten, sondern das Thema in seinen teilweise konfligierenden Abhängigkeitsbeziehungen zu problematisieren.
Schüler*innen gehen in ihren Rollen auf
In den Workshops, in die sich das Kader der «3B-Technology» nach dem Meeting zurückzieht, kommen die Dilemmas schnell auf den Tisch: Die Finanzabteilung merkt, dass das Budget für Material, Löhne und Produktionskosten nicht reicht, und an irgendeiner Stelle in der Kette gespart werden muss. Die Kinder kommen auf die Idee, doch einfach auf ihre Löhne zu verzichten. Diese wird aber verworfen, als ein Mädchen sagt, «wir sind Erwachsene, wir brauchen Löhne». Vielleicht besteht die Möglichkeit, beim Zulieferer und den Materialkosten zu sparen. Derweil brütet die Marketingabteilung über einen geeigneten Namen und über ein cooles Logo. Die Designerinnen tüfteln an der Form und den verschiedenen Features des Geräts herum. Schnell wird ihnen klar, sie müssen mit dem Marketing in Dialog treten. Was soll denn das Gerät alles können? Dreimal faltbar sollte es sein, drei Kameras haben eine raffinierte Spracherkennungssoftware und künstliche Intelligenz. «Wir müssen mit Klagen rechnen, wenn wir etwas einfach kopieren, was es auf dem Markt schon gibt», folgert ein Junge.
«’Process Drama’ eröffnet einen ganz anderen Zugang zum Lernen und Lehren, als herkömmlicher Unterricht», sagt Bajwa (links im Bild). Es sei eine Art des theatralen Lernens, doch mit Schultheater im klassischen Sinn hat es dann doch wieder wenig zu tun. «Es geht nicht darum, etwas Aufzuführen oder auswendig zu lernen, sondern darum, eine Situation mit dem eigenen Körper zu durchleben», sagt Rasson, «Theater im geschützten Rahmen ohne Publikum – das hat etwas sehr befreiendes.» Die Kinder jedenfalls gehen in ihrer Rolle im Spiel ziemlich auf, gar soweit, dass bald die Frage legitim scheint, ob die Klasse nun wirklich ein Handy auf den Markt bringt und ob dann alle Mitarbeitenden der Firma gratis ein Exemplar erhalten.
Zwischen Führung und Eigendynamik
Eine Schwierigkeit sei, so die Lehrerinnen, eine Balance zwischen Spannung und Losgelöstheit zu finden, das heisst «genug zu führen, sodass die Kinder nicht überborden und das Spiel ins Chaotische kippt, aber als Lehrperson auch so weit zurück zu treten, dass sich Eigendynamik und Spontaneität entwickeln können.» Diese Schwierigkeit zeigt sich besonders in der zweiten Hälfte des Morgens, als der Rollenwechsel ansteht und sich die Kinder als Mineure aufmachen, um die Rohstoffe für die Handyindustrie zu schürfen. Sie steigen in die verwinkelten Gänge einer Kobaltmine ab, in den Abgrund, der sich zwischen den zusammengeschobenen Schulbänken geöffnet hat, an denen ja gerade noch die Unternehmensleitung getagt hat. Sie lassen sich an Seilen hinunter, mit Taschenlampen, Pamir gegen Lärm und behelfsmässig vor das Gesicht gebundenen Lumpen gegen die schlechte Luft unter Tage.
Das Spiel nimmt ziemlich Fahrt auf, für die Kinder ist es ein Abenteuer. Sie treffen leichtfertige und gefährliche Entscheidungen, etwa wenn es darum geht, eine Rettungsaktion in einen verschütteten Schacht zu starten. Um ihre Kumpels zu bergen, riskieren sie Kopf und Kragen. Als dann eine Gruppe der Kinder Dorfbewohner spielen, die entdecken, dass in der Mine Kinder arbeiten und die Mineure damit konfrontieren, sind sie gleich wieder beim Thema: «Kinder gehören auf den Spielplatz» sagt ein Junge und alle pflichten ihm bei.
«Was schon fertig?! Ich möchte noch weiter in der Mine arbeiten», ruft ein Mädchen etwas enttäuscht, dass die Stunde schon zu Ende ist. Anja Rasson resümiert im Nachhinein, dass in der zweiten Einheit wohl etwas der Lebensweltbezug gefehlt hat und das Spiel etwas stärker in den Vordergrund gerückt ist. «Es ist ok, solche Eindrücke auch mal stehen zu lassen und sie nicht zu didaktisieren.» War auch zwischenzeitlich der Ernst der Materie verflogen, am Schluss jedenfalls hatten die Kinder keine Mühe, die kritischen Punkte im Spannungsfeld Handyproduktion, Kinderarbeit und Menschenrechte zu benennen: Freizeit haben, in die Schule gehen, tanzen und spielen, haben sie auf die Tafel geschrieben und jetzt rot unterstrichen.
Theaterpädagogik regt Lernen und Lehren an
Ein Interview mit Regina Wurster, Leiterin Beratungsstelle Theaterpädagogik über Theaterpädagogik und ihren Einsatz in verschiedenen Fächern.
Schultheater ist wohl jedem ein Begriff. Was aber genau ist Theaterpädagogik?
Die Theaterpädagogik im schulischen Kontext arbeitet prozess- und produktorientiert. Wie es der Name «Process Drama» schon anzeigt, fokussieren wir aber vor allem auf den Prozess, auf das theatrale Lernen – das ist auch einer unserer Entwicklungsschwerpunkte. Wir erarbeiten Methoden und Zugänge für den Unterricht, die sich am Theaterhandwerk orientieren. Dabei geht es um die Frage, wie Theaterpädagogik den Unterricht, das Lernen und Lehren anregen kann.
Wozu kann Theaterpädagogik eingesetzt werden?
Man kann fächerübergreifend theaterpädagogisch arbeiten. Nicht nur in den naheliegenden Fächer wie Deutsch und Fremdsprachen, sondern auch in Natur-Mensch-Gesellschaft, Ethik, Geschichte und auch in naturwissenschaftlichen Fächern können über das mimetische Spiel Themen vertieft werden. In der Mathematik etwa kann man das Thema Symmetrie mit Schüler*innen im Raum darstellen, indem man sie erst das Chaos und dann die Ordnung körperlich nachstellen lässt.
Was zeichnet die Kompetenzorientierung von Theaterpädagogik aus?
Gefördert werden die überfachlichen, die sozialen und personalen Kompetenzen. Aber auch exekutive Funktionen werden angesprochen, weil die Schüler*innen emotional stark ins Unterrichtsgeschehen eingebunden sind.
Braucht es spezifische Grundlagen, um theaterpädagogisch arbeiten zu können?
Grundsätzlich kann es jede Lehrperson ausprobieren. Es ist aber von Vorteil, wenn man bereits Erfahrungen mit offenen Lehrformen gemacht hat und eine gewisse Unordnung und Chaos produktiv nutzen kann. Um das Potenzial wirklich ausschöpfen zu können, lohnt sich eine Vertiefung in Form eines CAS oder im Rahmen des Studiums mit entsprechenden Modulen.
Interessierte Lehrpersonen und Studierende können sich an die Beratungsstelle Theaterpädagogik wenden.
Beitrag und Interview von Michael Hunziker. Er ist freier Journalist.