6.3.2019 | Pädagogische Hochschule
«Es hat sich viel getan»
Silvia Hüsler gilt als Pionierin für interkulturelle Pädagogik. Seit 40 Jahren berät sie Schulen und Kindergärten auf dem Gebiet und zeigt in ihren Kinderbüchern, wie bereichernd Sprachenvielfalt sein kann.
Interview: Virginia Nolan
Vor über 40 Jahren haben Sie angefangen, Kinderverse aus aller Welt zu sammeln. Was hat Sie dazu bewogen?
Ich hatte in meinen jungen Jahren als Kindergärtnerin gemerkt, dass Verse eine besondere Faszination auf Kinder ausüben. Manche haben eine geradezu magische Wirkung. «Heile, heile, Segen» etwa, der Klassiker, wenn es darum geht, ein Kind zu trösten. Diese Art von Sprechgesang, irgendwo zwischen Lied und Vers, zu dem wir das Kind in den Armen wiegen – Sie finden ihn in allen Kulturen. Verse kommen überall auf der Welt ähnlich daher. Fingerreime zum Beispiel scheinen etwas Universales zu sein. Bei uns beginnt man sie mit dem Daumen, in anderen Ländern mit dem kleinen Finger.
Verse nehmen in Ihren mehrsprachigen Kinderbüchern einen wichtigen Platz ein. Warum eignet sich diese Textform für die Schreib- und Leseförderung?
Verse ermöglichen Kindern einen einfachen Zugang zur Sprache, animieren sie durch Rhythmus und Wiederholungen, Reime und Wortspiele. Selbst kleine Kinder, die noch nicht sprechen können, haben Freude daran. Bei «Riite, riite, Rössli» fangen sie bei «Haberstrau» an zu kichern, weil sie wissen, dass sie danach vom Schoss nach hinten kullern. Bei Versen geht es nicht so sehr darum, Wörter richtig auszusprechen, vielmehr steht der Rhythmus im Zentrum. Dadurch eignen sich Verse hervorragend, Lautverbindungen einzuüben, sowohl in der Mutter- als auch in der Zweitsprache.
Sie sind Expertin auf dem Gebiet der interkulturellen Pädagogik. Was hat Sie auf diesen Weg gebracht?
Anfang der 1980er Jahre war ich in der Ausbildung von Kindergärtnerinnen tätig. Es war die Zeit, als die Schweiz Zugewanderten den Familiennachzug erleichterte und Schulen mit vielen Kindern konfrontiert waren, die kein Deutsch sprachen. Das Thema beschäftigte junge Kindergärtnerinnen damals sehr. Viele fühlten sich hilflos. Exemplarisch dafür war meine Begegnung mit einem italienischen Buben. Er hörte nicht auf zu weinen, die Kindergärtnerin wusste nicht recht, wie sie ihm helfen konnte. Ich setzte mich zu ihm und sprach ein paar Worte Italienisch, das reichte, damit er zu spielen begann. Entgegen der Lehrbuchmeinung übte die Kindergärtnerin mit der Klasse am nächsten Tag ein italienisches Lied ein. Daran hatte nicht nur der Bub Freude – Deutsch lernte er trotzdem.
Ihre ersten mehrsprachigen Kinderbücher für Schule und Elternhaus erschienen in den frühen 1980er Jahren. Wie war die Resonanz darauf?
Gut – die Kollegen an den pädagogischen Seminaren hatten den Handlungsbedarf erkannt. Uns hatte man in der Ausbildung noch beigebracht, mit fremdsprachigen Kindern ausschliesslich Deutsch zu sprechen, weil sie es sonst nicht lernten. Heute weiss man, dass Kinder, die ihre Muttersprache richtig beherrschen, besser Deutsch lernen. Die Schule hat allen Grund, ihre Herkunftssprache miteinzubeziehen.
Wie beurteilen Sie dabei das Engagement der Volksschule?
Es hat sich viel getan. Vor 10, 20 Jahren war es üblich, dass Lehrpersonen über die Herkunftssprachen ihrer Schüler nicht Bescheid wussten. Heute heissen manche Schulen Besuchende bereits am Eingang in allen Sprachen der Kinder willkommen, und in vielen Kindergärten lernen Kinder, in der Herkunftssprache ihrer Mitschüler auf zehn zu zählen oder Lieder zu singen. Ich finde das ein starkes Zeichen, weil es signalisiert: Ihr gehört zu uns.
Silvia Hüsler war Kindergärtnerin und wirkte später als Methodiklehrerin am damaligen LehrerInnenseminar in Brugg. Seit 1984 ist sie freischaffende Fachfrau für interkulturelle Pädagogik. Sie wirkt in der Aus- und Fortbildung von Pädagoginnen und Pädagogen und schreibt und illustriert mehrsprachige Kinderbücher. |