17.9.2019 | Pädagogische Hochschule
Gemeinsam Probleme angehen, gemeinsam Erfolge ermöglichen
Das Programm SOLE (Soziales Lernen in der Schule) unterstützt Schulen dabei, eine transparente und nachhaltige Schulkultur zu entwickeln. Persönlichkeitsstärkung und soziales Miteinander stehen dabei im Fokus. Die Schule Hagen / Watt aus Illnau Effretikon gewährt einen Einblick.
Reflektieren und zusammenwachsen: Die Lehrpersonen der Schule Hagen/Watt stellen ihre SOLE-Projekte vor.
Ein Dienstag Mitte Juni, eine Waldlichtung bei Winterthur: Rund 40 Lehrpersonen der Schule Hagen / Watt von Illnau-Effretikon (ZH) haben sich eingefunden, um sich gegenseitig die Projekte vorzustellen, an denen sie mit ihren Schülerinnen und Schülern während des letzten Semesters gearbeitet haben. Der heutige «Schul-Entwicklungs-Tag» soll sichtbar machen, wie die Lehrpersonen den gesellschaftlichen Herausforderungen an ihrer Schule begegnen und wie sie das Programm SOLE (Soziales Lernen in der Schule) konkret umsetzen. Unter dem Jahresmotto «Erfolge ermöglichen» werden Theaterprojekte, Mathematikaufgaben und Schreibarbeiten vorgestellt. Es wird diskutiert und nachgefragt: Wie genau lief das ab? Welche Ideen hattet ihr als Lehrpersonen? Hat das Projekt Anklang gefunden? Und: Hat sich das Klassenklima verändert, wurde der Gemeinschaftssinn gefördert?
Das Programm SOLE wurde 2013 entwickelt, seither haben es 23 Schulen übernommen, eine im Kanton Zürich, drei im Kanton Solothurn, 19 im Kanton Aargau. Die Kernidee: Die personale und soziale Kompetenz von Kindern und Jugendlichen fördern, ihnen vermitteln, wie sie sich konstruktiv mit den Zielen der Schule einerseits, eigenen Bedürfnissen und dem Verhalten anderer andererseits auseinandersetzen können. Auf der Seite der Lehrerinnen und Lehrer bedeutet SOLE auch, dass sie ihre Rolle als Vorbild bewusst gestalten, Unterrichtseinheiten und Projekte aufeinander abstimmen und ausrichten auf ein gemeinsames Ziel. Dies bringt mehr Kohärenz und Wirksamkeit. Das verlangt von den Lehrpersonen zwar mehr Austausch, verspricht aber auch mehr Unterstützung im Kollegium. SOLE orientiert sich dabei an drei Leitideen: Partizipation, Empowerment und Selbstwirksamkeit. Das Konzept ist stark alltagsbezogen.
Mit diesem Programm können Schulen auch sozialen Problemen und Spannungen begegnen. Insbesondere dort, wo die kulturelle Diversität gross ist und Kinder und Jugendliche aus schwierigen sozialen Verhältnissen stammen, braucht es ein verlässliches Schulsystem, das mögliche Spannungen auffängt. Eine Schule mit gewissem Brennpunktpotential ist auch die Schule Hagen / Watt aus Illnau-Effretikon. Sie gilt deshalb im SOLE-Zusammenhang als Beispiel einer gelungenen Integration der Grundidee in einen praktikablen Alltag.
Diskussionen über richtiges und falsches Handeln
Ein Beispiel, wie die Programminhalte konkret im Fachunterricht umgesetzt werden können, bietet Stefan Kneubühler (32). Er hat mit seiner Schulklasse Entscheidungsromane geschrieben und digital aufbereitet. In Gruppen haben sich die Schülerinnen und Schüler organisiert, Geschichten erdacht, gegengelesen, Feedback gegeben. Die Geschichten beinhalten an Zweigstellen Entscheidungen, die der Leser treffen muss; geht sie oder er diesen oder den anderen Weg? Je nachdem endet die Geschichte anders. Das förderte Diskussionen über Moral, über richtiges und falsches Handeln und ermöglichte den Jugendlichen, Entscheidungskompetenz aufzubauen. «Ich möchte die Jugendlichen stabilisieren, und sie für die Herausforderungen vorbereiten, denen sie heute und später begegnen. Sie sollen lernen, Vertrauen zu sich selbst und ihren Entscheidungen aufzubauen und Kompromisse eingehen zu können», sagt Kneubühler.
Die 40 Lehrpersonen, die sich heute im Waldschulzimmer und im nahe gelegenen Waldstück angeregt unterhalten, miteinander lachen, ums Feuer stehen und ihre Projekte auf einem 90-minütigen Parcours selbstkritisch reflektieren, sind als Team zusammengewachsen. Unter dem Jahresmotto «Erfolge ermöglichen» sind neue, kreative Ansätze entstanden, die zeigen, wie SOLE im Schulalltag aussehen kann.
Was SOLE will und kann
Muriel Maglock hat zusammen mit ihrer 1. Sek-A-Klasse eine Gerichtsverhandlung nachgespielt. Die Jugendlichen zeigten sehr viel Freude und machten mit, brachten eigene Ideen ein. Stolz präsentiert Maglock kurze Filmchen auf ihrem Tablet, wo man sieht, wie ihre Klasse die Verhandlungen führt. Es ging zum einen um Justizsysteme, die Schülerinnen und Schüler lasen Texte und schulten ihre Auftrittskompetenz, zum anderen ging es auch um Fragen der Verantwortung und der Schuld, um menschliche Dilemmata und um Urteilsfähigkeit. Was ist fair? Wann ist jemand wirklich kriminell? Wie würdest du handeln? Die 27-jährige Lehrerin sagt, die Ziele von SOLE seien für sie sehr natürlich, sie unterrichte sowieso bereits sehr nahe an der Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler. Das Projekt vermöge viele Impulse zu geben. Dabei gibt Maglock aber auch zu bedenken, dass die Schule nicht die Antwort auf alle gesellschaftlichen Probleme zu sein habe, noch immer werde vieles in den Familien und im Freundeskreis geprägt.
Das bestätigt auch Karin Frey, Programmleiterin SOLE und Dozentin für Pädagogik an der PH FHNW: SOLE kann nicht alle Probleme einer Schule lösen. «Bei eskalierenden Problemsituationen haben die Schulleitungen andere Ansprechpartner», sagt Frey. Das Programm sei dazu da, immer wieder auftretende Probleme anzugehen und vor allem Schulen dabei zu unterstützen, ihren Bildungs- und Erziehungsauftrag im Bereich überfachlicher Kompetenzen wahrzunehmen.
Bekundet eine Schule Interesse an SOLE, klärt Karin Frey in ersten Gesprächen, was SOLE will und kann, dann entscheidet jede Schule individuell, wie sie die Programminhalte umsetzen will und welche spezifischen Ziele sie sich setzt. Unterstützt wird sie dabei von Fachberatungspersonen der PH FHNW. Ein «SOLE-Zyklus» dauert ungefähr vier Jahre. Denn Kulturwandel findet nicht über Nacht statt, wie auch die Schulleiterin in Illnau-Effretikon, Marianna Minder, erklärt: Seit wir SOLE eingeführt haben, hat sich das Team sehr verändert. Wir haben eine positive Dynamik und viele neue Ideen im Team», sagt die 57-Jährige. Der Erfolg von SOLE sei ihrer Erfahrung nach eng mit der intensiven Arbeit der Steuergruppe verbunden und mit der Zeit, die alles zeigen wird. «Wir haben mit SOLE jetzt den Boden für eine nachhaltige Entwicklung unserer Schulkultur gelegt und hoffen, dass das Projekt weiter Früchte trägt.»
Soziales Lernen im Unterricht bedeutet, dass den Kindern und Jugendlichen mehr beigebracht wird als Rechnen, Schreiben und Lesen, Programmieren oder Turnen. Jede Unterrichtseinheit ist gleichzeitig eine Lebensschul-Einheit, die solche Fragen behandelt: Wie gehe ich mit anderen um? Wie mit meinen Bedürfnissen? Wie halte ich Konkurrenzdruck aus, wie gehe ich auf jemanden zu, wenn er einer anderen Religion angehört als ich?
Weniger eskalierende Konflikte
Mit dieser Art der Auseinandersetzung soll Resilienz gefördert werden aufseiten der Schülerinnen und Schüler, aber auch aufseiten der Lehrpersonen. Ursprünglich war SOLE als Projekt zur Gesundheitsförderung gedacht. Etliche Lehrpersonen fühlen sich dem Druck vielfältiger Alltagserfordernisse, der Lernzielerreichung und eskalierenden Konflikten ausgeliefert – auf Dauer ein Zustand, der psychisch krank macht. «Das Gefühl, die Probleme nicht alleine angehen zu müssen, hilft», sagt Karin Frey. «Gemeinsam getragene Verantwortung bringt Entlastung und schafft ein Gefühl der Kohärenz. Und erste Untersuchungen zeigen: Das Programm wirkt.» Teilnehmende Schulen hätten deutlich weniger eskalierende Konflikte. Das liege daran, dass Kinder und Jugendliche sowie die Lehrpersonen kompetenter geworden seien, sowohl im Aushandeln von Regeln als auch im Umgang mit Konflikten.
Früher sei der Lehrer ein Einzelgänger gewesen, sagt etwa Peach Humbel (57), Zeichnungslehrer an der Schule, jeder habe eigene Unterrichtsziele verfolgt. «Mit SOLE ist am Ende des Tages gar nicht vieles anders, aber die Stossrichtung ist klar, sie ist abgesprochen, transparent und für jeden nachvollziehbar. Und so merkt die Lehrperson: Ich bin nicht allein, wir sind ein Kollektiv, und diese Bewusstwerdung alleine macht einen riesigen Unterschied.»
Von Anna Miller (Text), Eleni Kougionis (Fotos)