Skip to main content

13.12.2022 | Pädagogische Hochschule

«Wir müssen unsere Wahrnehmung stets hinterfragen»

Berfim Pala untersuchte in ihrer Masterarbeit an der PH FHNW, welche Rolle die Erwartungshaltung von Lehrpersonen bei der Diskriminierung von Immigrantenkindern spielt.

18_Berfim_Pala.jpg«Ich unterrichte Deutsch und Englisch auf der Sekundarstufe I in Basel. Wenn ich darüber nachdenke, auf welche Future Skills es für Lehrpersonen ankommt, fällt mir eines ein: Wir müssen uns bewusstmachen, welchen Einfluss unsere subjektive Wahrnehmung auf das Selbstbild und die Leistungen von Schüler*innen hat. Ob sie ihr Potenzial ausschöpfen können, hängt erheblich davon ab, mit welcher Werte- und Erwartungshaltung wir ihnen begegnen. Letztlich geht es dabei auch um Chancengleichheit, dem Hauptgegenstand meiner Masterarbeit an der PH FHNW, die den wissenschaftlichen Diskurs dazu mit der Realität abgleicht. Anhand eines Fallbeispiels zeige ich unter anderem auf, wie Schüler*innen mit Migrationshintergrund Diskriminierung erleben, und dass die Rolle der Lehrperson dabei von zentraler Bedeutung ist.

Untersuchungen zeigen, dass Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund bei gleichen Leistungen schlechtere Noten erhalten als Kinder mit deutscher Muttersprache. Die Literatur legt nahe, dass die Problematik beim Begriff beginnt: ‘Migrationshintergrund’ suggeriert eine ‘Wir-Sie’-Dichotomie, die von der Herkunft ausgehende Differenzen in den Vordergrund stellt und vorab eine Ungleichheit implementiert, was dazu führt, dass die Fremdeinschätzung einer Person weniger auf deren Potenzial und Fähigkeiten beruht, sondern auf ethnischen, sozialen oder kulturellen Merkmalen.

Die Auffassung prägt die Identität der Jugendlichen und akzentuiert deren Ungleichsein, wobei die Schule diese soziale Ordnung reproduziert. Diese Unterscheidungspraktik begünstigt Benachteiligung, weil Migrationshintergrund mit Bildungsferne assoziiert wird. Dies wirkt sich auf die Erwartungserhaltung von Akteur*innen im Bildungssystem aus, die, wie Untersuchungen zeigen, mit Schulschwierigkeiten von Immigrantenkindern geradezu rechnen – und sie dann oft einem ‘Kulturkonflikt’ zuschreiben. So wird die durch Schüler*innen erlebte Diskriminierung seitens Schule häufig in Gefährdung übersetzt.

An dieser Stelle betont die Forschung die zentrale Rolle der Lehrperson, deren Erwartungshaltung einem Kind gegenüber in direktem Zusammenhang mit dessen schulischer Laufbahn steht. Die Psychologie erklärt diesen Effekt damit, dass Schüler*innen automatisch versuchen, den ihnen entgegengebrachten Erwartungen zu entsprechen und die ihnen zugewiesene Rolle zu übernehmen.

Der in meiner Masterarbeit analysierte Fall zeigt dies am Beispiel der schulischen Odyssee eines Immigrantenkindes, das je nach Lehrperson als lernbeeinträchtigt bis hin zum Anwärter fürs Gymnasium eingestuft wurde – und in der Interaktion mit der jeweiligen Person auch die von ihm erwarteten schlechten oder sehr guten Leistungen erbrachte. Die damit verbundenen Hürden meisterte besagter Jugendlicher dank eigenem Einsatz und dem seiner Mutter, die durch ihren beruflichen Hintergrund über das Schweizer Bildungssystem sowie externe Fachstellen orientiert war, deren Ressourcen sie nutzte.

Ihr Sohn ist heute als Arzt tätig, was nicht zuletzt der Beharrlichkeit der Mutter zu verdanken ist – und ihrer Expertise, eine Ressource, die viele Immigrantenfamilien nicht aufbringen können. Was ich aus meiner Masterarbeit mitnehme: Es ist zentral, dass wir Lehrpersonen unsere subjektive Wahrnehmung stets hinterfragen und uns ihrer Wirkung auf die Entwicklung der Lernenden bewusst sind. Gelingt das, sind wir dem Ideal der Chancengerechtigkeit ein Stück nähergekommen.»


Aufgezeichnet von Virginia Nolan, erschienen in: DAS HEFT Nr. 8 / 2022

Diese Seite teilen: