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2.4.2025 | Hochschule für Angewandte Psychologie

Die unsichtbare Grenze: Was ein weggeworfener Zigarettenstummel über unsere Gesellschaft verrät

Wann haben Sie zuletzt beobachtet, wie jemand einen Zigarettenstummel achtlos auf den Boden geschnippt hat? Und was haben Sie dabei empfunden?

Diese scheinbar beiläufige Handlung ist mehr als nur eine Frage der Umweltverschmutzung – sie offenbart tiefere psychologische Mechanismen und gesellschaftliche Dynamiken. Eine aktuelle Studie der Hochschule für Angewandte Psychologie FHNW unter der Leitung von Prof. Dr. Nina Tobler und Prof. Dr. Anne Herrmann zeigt, dass sich darin unser Verständnis von Verantwortung, unsere moralischen Grenzen und unser Verhältnis zur Gemeinschaft widerspiegeln.

Soziale Normen: Wann ist Littering akzeptabel?

Die Forschungsergebnisse sind aufschlussreich: Unsere Vorstellungen von akzeptablem Verhalten sind flexibler, als wir denken. Je nach Umgebung verschieben sie sich – oft unbewusst:

🏡 Private Grundstücke → Abfall wird fast immer vermieden, denn das Eigentum anderer wird respektiert.
🌳 Natürliche Umgebungen → Oftmals ein hohes Bewusstsein für den Schutz der Natur.
🏙️ Öffentliche, urbane Räume → Eine Grauzone: Hier herrscht das Gefühl, dass «sowieso gereinigt wird».
🚆Öffentliche Räume, in denen man kaum Zeit verbringt → Kaum Hemmungen, beispielsweise an Bahngleisen oder vor Nachtclubs.

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Darstellung zum Zigaretten-Littering je nach Charakteristika des Ortes aus der Präsentation

Diese Erkenntnisse werfen eine unbequeme Frage auf: Wo verläuft die Grenze zwischen eigenem und gemeinsamem Raum? Und warum verschiebt sich diese Grenze je nach Kontext?

Psychologische Mechanismen hinter dem Littering

Die Studie identifiziert drei zentrale psychologische Muster, die dazu führen, dass Menschen Zigarettenstummel nicht ordnungsgemäss entsorgen:

Abscheu – «…alleine der Gedanke, ich laufe mit so Stummel rum, die angeraucht sind, finde ich nicht so toll.»
Menschen möchten sich von Abfall distanzieren – je ekliger etwas erscheint, desto weniger wollen wir uns damit befassen. Dieses psychologische Phänomen ist eng mit unserem Bedürfnis nach innerer Konsistenz verbunden:

  • Wir entfernen uns mental und physisch von allem, was an unangenehme Wahrheiten erinnert.
  • Verhalten, das nicht mit unseren Überzeugungen übereinstimmt, wird verdrängt oder rationalisiert.


Reaktanz – «Das ist meine Freiheit – so wie die Entscheidung zu rauchen selbst auch! »

Das absichtliche Ignorieren von Regeln kann als kleine Form des Widerstands empfunden werden. Dieser Mechanismus beruht auf einem tief verwurzelten Bedürfnis nach Autonomie: Wenn Menschen das Gefühl haben, dass ihnen Vorschriften aufgezwungen werden, reagieren sie oft mit Trotzverhalten.

Bequemlichkeit – «Ja, ist Convenience und pfff, die anderen machen es ja auch.»
Wenn der Weg zum nächsten Abfalleimer zu weit erscheint, obsiegt oft der innere Schweinehund. Es geht dabei nicht nur um Faulheit – oft ist es schlicht Bequemlichkeit. Die paar Schritte mehr wären eigentlich zumutbar, aber wir reden uns ein, dass es zu aufwendig sei. So wird aus einem kleinen Mehraufwand schnell eine Ausrede.

Der gesellschaftliche Mikrokosmos: Was ein Stummel über uns verrät

Dieses scheinbar banale Verhalten wirft grössere Fragen auf:

Sind soziale Normen räumlich begrenzt?
Warum handeln wir in bestimmten Kontexten anders? Könnte es sein, dass unsere Grundsätze nicht so universell sind, wie wir oft glauben? Inwiefern beeinflussen unterschiedliche Umgebungen unser Verantwortungsgefühl?

Wer fühlt sich verantwortlich für den öffentlichen Raum?
Was passiert, wenn wir öffentliche Orte als «neutrale Zonen» betrachten? Spiegelt unser Umgang mit gemeinschaftlichen Räumen vielleicht eine veränderte Beziehung zum Gemeinschaftsgedanken wider?

Wie wirkt die Psychologie der Distanz auf unser Handeln?
Nehmen wir Verantwortung stärker wahr, wenn wir die Konsequenzen unmittelbar spüren können? Wie wirkt sich diese Distanz nicht nur auf unser Abfallverhalten aus, sondern möglicherweise auch auf unser Engagement für Klimaschutz oder soziale Gerechtigkeit?

Wo verläuft die Grenze zwischen Freiheit und Verantwortung?
Wie finden wir die Balance zwischen individueller Autonomie und gemeinschaftlichem Miteinander?
Der achtlos weggeworfene Zigarettenstummel mag auf den ersten Blick banal wirken – doch er berührt grundlegende Fragen: Wie wichtig ist uns das Gemeinwohl? Wann endet meine Freiheit, und wo beginnt meine Verantwortung gegenüber anderen?

Von der Beobachtung zur Veränderung

Die Ergebnisse der Studie liefern nicht nur Erkenntnisse, sondern auch konkrete Ansätze für Veränderung:

  • Kommunizieren, dass Zigaretten-Littering in der Gesellschaft von den meisten nicht akzeptiert wird. Soziale Normen für bestimmte soziale Gruppen noch klarer adressieren, nicht nur den «generischen Konsens».
  • Konkrete Verbote (und sogar Bussen) deutlich kommunizieren.
  • Entsorgung «cooler» machen und damit akzeptabler für manche Gruppen durch «lässige» Lösungen.
  • Grosse Schäden von Zigaretten-Littering sehr deutlich kommunizieren. Arbeit mit Fakten und eindringlicher Visualisierung. Keine zu extreme Darstellung, um keine Verdrängung auszulösen.
  • Schäden differenziert darstellen (Umwelt, Tiere, Kinder etc.) um möglichst viele Personen, über Argumente zu erreichen, welche für sie persönlich wichtig sind.
  • Argumentationshilfe für Personen schaffen, die Raucher*innen auf Umweltschäden hinweisen möchten.
  • Entsorgungsmöglichkeiten einfacher und «näher» zur Verfügung stellen, um subjektiv empfundenen Aufwand zu reduzieren.
  • Kübel mit klar erkennbarer und leicht nutzbarer Aschenbecherfunktion als Standard etablieren, um sicheres Ausdrücken und Entsorgen von Zigarettenstummel zu gewährleisten und dass Brandgefahr im Kübel keine Ausrede mehr sein kann.
  • An naturnahen Orten für mehr Entsorgungsmöglichkeiten sorgen. Entsorgungsmöglichkeiten sind dort oft unzureichend. Oder mobile Lösung anbieten, z. B. Taschenaschenbecher in Wandergebieten.

Zum Nachdenken

  • In welchen Räumen fühlen Sie sich persönlich mehr oder weniger verantwortlich? Warum unterscheidet sich Ihr Verantwortungsgefühl je nach Umgebung?
  • Welcher der drei genannten Mechanismen (Abscheu, Reaktanz, Bequemlichkeit) spielt bei Ihrem Umgang mit Abfall die grösste Rolle?
  • Wie könnten wir als Gesellschaft das 'Gemeinsame' im öffentlichen Raum wieder stärker verankern?
  • In welchen anderen Lebensbereichen bemerken Sie ähnliche Muster von kontextabhängiger Verantwortungsübernahme?

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Studie «Kleine Stummel, grosse Wirkung: Zigaretten-Littering aus psychologischer Perspektive»

Dieses Projekt wurde von Prof. Dr. Nina Tobler und Prof. Dr. Anne Herrmann an der Hochschule für Angewandte Psychologie FHNW durchgeführt. Finden Sie weitere Infos und Publikationen zur Studie.

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