Komplexe Fälle in der Sozialen Arbeit kollaborativ bearbeiten
Um Menschen in schwierigen Lebenssituationen zu helfen, sind eine gute Fallanalyse und die Beteiligung der Menschen am Lösungsprozess nötig. Die Systemisch-biografische Fallarbeit vereint bekannte und neu entwickelte Instrumente und Verfahren, um komplexe Fälle nachhaltig zu bearbeiten.
Menschen sind nicht einfach in der Welt, sondern sie schaffen sich ihre Lebensverhältnisse, indem sie selbst tätig werden und sich mit ihrer Umwelt auseinandersetzen.
Die forschungsbasierte Theorie «Integration und Lebensführung» geht davon aus, dass Menschen ihr Leben in ihrem individuellen Lebensführungssystem führen. Dieses besteht einerseits aus dem Menschen selbst, mit seinen Ressourcen und Mustern, und andererseits aus seinen ganz spezifischen Formen der Integration in diverse soziale Handlungssysteme, wie beispielsweise Familie, Arbeit, Wohnumfeld und Hilfesystem.
Komplexe Probleme erkennen und zielgerichtet angehen
Mit der Lebensführung gehen Aufgaben der Lebensbewältigung und entsprechende Schwierigkeiten einher. Soziale Probleme und Krisen entstehen dann, wenn ein Mensch so in seine Handlungssysteme eingebunden ist, dass auf der individuellen Ebene problematische Muster aktiviert und/oder die biopsychosozialen Bedürfnisse nicht mehr befriedigt werden.
Um Menschen in solchen Problemsituationen zu unterstützen ist es wichtig, die komplexen Zusammenhänge des Lebensführungssystems zu verstehen. Denn je besser das Fallverständnis ist, desto zielgerichteter und nachhaltiger können Probleme angegangen werden.
Die Klientel und andere Akteure in die Fallarbeit einbeziehen
In einem Projekt haben Praktikerinnen und Praktiker aus verschiedenen Feldern der Sozialen Arbeit und Mitarbeitende der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW gemeinsam Verfahren und Instrumente entwickelt und erprobt, um komplexe Fälle zu erfassen, zu verstehen und zu bearbeiten. Aus dem Projekt wurde die Systemisch-biografische Fallarbeit entwickelt. Systemisch bedeutet, dass die verschiedenen Handlungssysteme des Lebensführungssystems genau analysiert und bearbeitet werden. Wichtig dabei ist der Einbezug der Klientinnen und Klienten sowie von weiteren Akteurinnen und Akteuren, die Teil der verschiedenen Handlungssysteme sind. Das bedeutet zum Beispiel, wenn jemand nach einem Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik wegen einer depressiven Phase zurück in den Alltag kommt, soll das Handlungssystem Arbeit bearbeitet werden. Die Überforderung am Arbeitsplatz war nämlich ein wichtiger Grund für die depressive Phase. Damit die betroffene Person bei der Arbeit wieder zurechtkommt, müssen die beruflichen Anforderungen in enger Zusammenarbeit mit der Person selbst, den Vorgesetzten und dem Team angepasst werden. Es werden also die Integrationsbedingungen im Handlungssystem Arbeit bearbeitet.
Bei der Konzeption der Systemisch-biografischen Fallarbeit hat sich gezeigt, dass biografische Interviews zur Datenerhebung sehr geeignet sind. Dies aus zwei Gründen: Biografische Interviews sind offen und werden durch die Erzählenden selbst strukturiert, was einem vorschnellen «Fallverstehen» aufgrund von Aktenlage oder Organisationslogik vorbeugt. Zudem erleben die Interviewten das Interview als positiv, da sich jemand aus dem Hilfesystem für sie als ganze Menschen interessiert.
Die Falldynamik sichtbar machen
In der Systemisch-biografischen Fallarbeit werden biografische Interviews mit anderen Verfahren verbunden. gehören bekannte Instrumente und Verfahren wie Zeitbalken, Netzwerkkarte, aber auch neue Entwicklungen wie unterschiedliche Verfahren der Datenauswertung und die Systemmodellierung. Mit der Systemmodellierung kann die dem Lebensführungssystem zugrunde liegende psychosoziale Falldynamik visualisiert werden. Sie macht sichtbar, welche Wechselwirkungen zwischen dem Menschen und den Handlungssystemen bestehen und wie sich diese auf die Falldynamik auswirken. In Zusammenarbeit mit der Firma Diartis AG und der Hochschule für Technik FHNW ist ein Softwareprototyp zur Systemmodellierung erstellt worden, der zurzeit zur Marktreife weiterentwickelt wird.
Die Hilfeplanung zusammen mit der Klientel erarbeiten
Aus der Entwicklungsarbeit im Projekt ist ein Manual entstanden, das in die Systemisch-biografische Fallarbeit und ihr Instrumentarium einführt. Die Nutzung dieser Tools ermöglicht einen einfachen Austausch des gewonnenen Fallverständnisses in Teams und zusammen mit Klientinnen und Klienten. Auch die Hilfeplanung wird in diesem Ansatz kollaborativ mit der Klientel erstellt. Der Prozess wird laufend evaluiert, die Interventionsplanung entsprechend aktualisiert und damit ein Prozessbogen der Hilfe gesichert.
Einige der am Projekt beteiligten Praktikerinnen und Praktiker führen die Entwicklungsarbeit fort. Zum Beispiel werden in der Aargauischen Stiftung Suchtberatung ags seit einiger Zeit ausgewählte Fallgeschichten interdisziplinär gemeinsam analysiert und Hilfeplanungen vorbereitet. Dabei treffen sich Suchtberatende der verschiedenen Standorte und nutzen das im Projekt entwickelte vereinfachte Verfahren der Auswertung biografischer Interviews, erstellen Systemmodellierungen und leiten daraus fallangemessene Hilfeplanungen ab. Mit der Anwendung der Systemisch-biografischen Fallarbeit hat die Fachgruppe wertvolle Erfahrungen für die Suchtberatung ags gewonnen, die in die weitere fachliche Entwicklung eingehen. Gleichzeitig kann sie die Erkenntnisse aus dem Fallverständnis und dem verstärkten Einbezug der Klientel im Betrieb und in der Zusammenarbeit mit anderen Akteuren der psychosozialen Versorgung einbringen.
«Die Kooperation mit der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW ist für unsere Stiftung eine einzigartige Möglichkeit, die Professionalisierung der Sozialen Arbeit voranzutreiben.»