8.3.2023 | Hochschule für Soziale Arbeit
Mitdenken, mitentscheiden und voneinander lernen
Wenn Studierende mit Praxisorganisationen zu tun haben, sind die Aufgaben meistens klar verteilt: Studierende lernen, Praxispartner*innen leiten an. In der «Freiform», der neuen Studienform im Bachelor Soziale Arbeit der FHNW, ist das anders. Hier werden neue Formen der Kooperation zwischen Praxis und Hochschule erprobt. Studierende, Dozierende und Personen aus der Praxis gestalten Bildungssettings gemeinsam und lernen dabei miteinander und voneinander. Wie eine solche Partnerschaft erfolgreich funktionieren kann, zeigt das Beispiel der Sozialhilfe Basel.
Die Tür zum Büro von Denise Fonjallaz steht offen. Jeder aus ihrem Team darf eintreten – und gleichzeitig ist auch sie nicht allein. Die Kultur der offenen Türen ist selbstverständlich für Mitarbeitende der Sozialhilfe Basel und Fonjallaz schätzt diese Offenheit. Die angehende Sozialarbeiterin beendet gerade erst ihr Studium an der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW und hat bei der Sozialhilfe Basel bereits den Einstieg in ihren neuen Beruf geschafft. «Wir schliessen unsere Türen nur, wenn wir Gespräche mit Klient*innen haben.» Ruhig und voller Vertrauen in ihre Fähigkeiten erzählt sie von ihrem Werdegang, wie sie als eine der ersten Studierenden der Freiform 2019 nicht mehr nur im Hörsaal sass, sondern ihre Ausbildung gemeinsam mit FHNW-Dozierenden und Sozialarbeiter*innen aus der Praxis individuell mitgestaltet hat – auf Augenhöhe. Im dritten Semester ist sie das erste Mal Mitarbeitenden der Sozialhilfe Basel begegnet, bei einem Bündnis zu Schlüsselsituationen in der Sozialen Arbeit. «Das Thema der gesetzlichen Sozialarbeit hat mich im Studium von Anfang an interessiert», erzählt Fonjallaz. Die Bündnisse als eine besondere Form von Projektarbeit in der Freiform erlauben es den Studierenden, viel Praxisbezug zu bekommen. Sie dürfen schon früh im Studium Verantwortung übernehmen und ihr Wissen einbringen. Gleichzeitig bereichern Dozierende der Fachhochschule das Projekt mit ihrer wissenschaftlichen Perspektive – ein demokratischer Prozess also, bei dem die Trennung zwischen Hochschule und Praxis aufgebrochen wird.
«Offenheit und Neugier wirken brückenbildend»
Sozialhilfe Basel: Lukas Zingg, Denise Fonjallaz, Sven Lavanchy (Foto: Sabine Goldhahn)
Für Praxisorganisationen ist diese Form der Kooperation eher ungewohnt, zumindest am Anfang. Im «Trialog» – dem Gespräch zwischen den drei Parteien – müssen sich auch gestandene Praktiker*innen aus ihrer Komfortzone wagen und wieder zu Lernenden werden. Sie stellen sich den Fragen ihrer Bündnispartner*innen, erfahren von neuesten Methoden aus der Forschung oder hinterfragen eigene Vorgehensweisen. «Unsere Organisation hat sich in den letzten Jahren sehr geöffnet und ist flexibler geworden. Die Zusammenarbeit mit der Freiform passt gut zu dieser neuen Ausrichtung», sagt Lukas Zingg von der Sozialhilfe Basel. «Als Teamleitende an einem Informationsanlass von der Freiform hörten, wollten sie es versuchen, weil auch wir dabei lernen und für unsere Arbeit etwas mitnehmen können.» Das war 2019. Seitdem engagieren sich Praktiker*innen der Sozialhilfe Basel in verschiedenen Bildungssettings der Freiform und gestalten diese gemeinsam mit Studierenden und Dozierenden aktiv mit.
Zingg ist «Botschafter» der Freiform und damit Ansprechperson für interessierte Studierende und Mitarbeitende. Der Sozialarbeiter nimmt regelmässig an Veranstaltungen der Freiform teil, wie etwa an Workshops, Austauschtreffen mit anderen Botschafter*innen oder an Marktplätzen – wo Themen vorgestellt und Bündnispartnerschaften aufgebaut werden. Diese Erfahrungen gibt er dann an andere Mitarbeitende weiter, beantwortet ihre Fragen und vermittelt sie für eine Teilnahme an einem Bündnis, wenn sie das wollen. Hinzu kommen organisatorische Aufgaben. Das klingt zunächst nach sehr viel Aufwand, doch Zingg kann all die Aufgaben während seiner regulären Arbeitszeit erledigen. «Freizeitarbeit ist nicht Sinn der Sache», sagt Sven Lavanchy, Abteilungsleiter bei der Sozialhilfe Basel-Stadt. «Für unsere Arbeit ist es wichtig, dass wir über den Tellerrand schauen – und das können wir als Freiform-Partner.»
Geben und Nehmen
Bei den Mitarbeitenden ist das Interesse an den Bündnissen gross. Eine der am laufenden Bündnis teilnehmenden Sozialarbeiter*innen erzählt, sie habe sofort zugesagt, als ihr Arbeitskollege sie auf diese Möglichkeit hingewiesen habe. An der Arbeit im Bündnis findet sie gerade die Kombination aus Lernen und Lehren bereichernd: «Ich möchte mein Wissen in die Praxis einbringen, aber ich möchte auch etwas weitergeben und mich selbst weiterentwickeln – und das tue ich, wenn ich etwas Neues mache und Inputs von aussen bekomme.»
Auch Freiform-Botschafter Zingg zieht eine positive Bilanz: «In der Freiform gibt es keine starren Strukturen. Was wann wo wie passiert, und wer welche Aufgabe übernimmt, ist immer Aushandlungssache», sagt Zingg. «Das ist ein enorm kreativer Prozess und es wird nie langweilig.» Wenn die Arbeitsbelastung es zulässt, können alle Mitarbeitenden aus der Organisation freiwillig Ideen einbringen, an Bündnissen teilnehmen oder neue anstossen, auch ohne Führungskraft zu sein.
Herausforderung Soziale Arbeit
Das Bündnis Schlüsselsituationen hat einen Sonderstatus bei der Sozialhilfe Basel, denn es findet schon seit mehreren Jahren statt. Diskutiert wird jeweils eine konkrete, herausfordernde Situation aus der Praxis, die eine der teilnehmenden Fachpersonen erlebt hat. Zum Beispiel, wie sich am Beratungstisch gemeinsam mit Klient*innen Ziele finden und vereinbaren lassen. Im Bündnis arbeitet die Gruppe mit einem wissenschaftlichen Modell, das Eva Tov, Dozentin an der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW, mitentwickelt hat: «Wir können damit komplexe Situationen strukturiert reflektieren und uns eine Art ‹Schlüssel› erarbeiten, mit dem man ähnliche Situationen in Zukunft professionell ‹aufschliessen›, also konstruktiv gestalten kann», erklärt Tov. Davon haben alle etwas. So stehen die Erkenntnisse aus dem Bündnis allen Mitarbeitenden der Sozialhilfe Basel zur Verfügung und werden nach und nach zu einem Handbuch zusammengetragen.
Ein Bündnis zur Weiterbildung und als Start in den Job
Die Bündnisse stellen auch eine Alternative zu umfangreicheren Weiterbildungsangeboten dar. «Die Teilnehmer*innen festigen und erweitern im Rahmen der Bündnisse ihr Fachwissen», erklärt Zingg. Gleichzeitig geben die Sozialarbeiter*innen ihr Wissen weiter und ermöglichen den Studierenden einen Einblick ins Arbeitsfeld der Sozialhilfe. «Als grosse Arbeitgeberin sehen wir uns in der Verantwortung, in die Ausbildung zu investieren», erklärt Abteilungsleiter Lavanchy, «und wir wollen auch zeigen, was für ein spannendes Arbeitsfeld die Sozialhilfe ist – für unsere eigenen und natürlich auch für zukünftige Sozialarbeiter*innen. Das ist eine grosse Motivation für uns.»
Im Idealfall entsteht aus einem Bündnis eine Praxisphase – ein in das Studium integrierter Ausbildungsabschnitt –, bei dem sich Studierende und die Praxisorganisation besser kennenlernen. So auch bei Denise Fonjallaz. Nach «einer total spannenden Zusammenarbeit» hörte die Studentin von dem Praktikumsangebot bei ihrer einstigen Bündnispartnerin, bewarb sich und bekam die Stelle. Heute ist sie festangestellt – obwohl sie gerade noch ihren Abschluss fertigmacht. Zingg dazu: «Wenn wir in einem gemeinsamen Projekt Vertrauen in den Menschen gewonnen haben und wissen, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis der Abschluss da ist, sind wir flexibel und warten auf sie.»
Für Fonjallaz war der Rollenwechsel von der Studentin zur Sozialarbeiterin wenig einschneidend. «Durch die Freiform haben wir schon im Studium gesehen, wie wichtig es ist, dass jede*r seine Kompetenzen einbringt», erzählt sie, «die klassischen Rollen von Lehrenden und Lernenden lösen sich auf und es lernen alle von allen».