29.9.2021 | Hochschule für Soziale Arbeit, Institut Professionsforschung und -entwicklung
Keine Ausbildung – keine Chance im Arbeitsmarkt?
Ist Bildung das Wichtigste, um im Arbeitsmarkt zu bestehen? In einem Forschungsprojekt hat die Hochschule für Soziale Arbeit FHNW untersucht, welche Faktoren die Beschäftigungsfähigkeit von geringqualifizierten Arbeitskräften beeinflussen.
Das Forschungsteam der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW führte Interviews mit Betrieben und Personalvermittlern und auch zahlreiche Gespräche mit geringqualifizierten Arbeitskräften, um herauszufinden, welche Faktoren deren Erwerbsverläufe beeinflussen. Dabei traf das Team auf drei Typen von Erwerbsverläufen: auf stabile, auf prekäre und auf Personen, die aufsteigen konnten. In der Gruppe der Personen mit stabilen Verläufen finden sich Menschen wie Diana Kotevska*. Sie macht in Mazedonien das Gymnasium, heiratet mit 21, zieht in die Schweiz zu ihrem bereits hier wohnhaften Mann. Ein Jahr später wird sie schwanger. Sie dachte, dass sie nun schlechte Chancen auf einen Job hat. Im Interview des Forschungsprojekts sagt sie: «OK, und dann Kind geboren… schon alles vorbei.» Doch es kam anders: Als ihr erster Sohn zwei Jahre alt ist, findet sie durch eine Nachbarin eine Stelle in einer Möbelfabrik. Nach einer grossen Umstrukturierung verliert sie zwar diese Anstellung, findet aber mit der Unterstützung eines privaten Personalverleihers einen Job als Produktionsmitarbeiterin am Fliessband eines Industriebetriebs und ist auch heute noch dort in der gleichen Funktion tätig. Sie hat einen äusserst stabilen Erwerbsverlauf, ist zufrieden damit und erzählt: «Ich weiss, gibt schon sicher besser als Fabrik. Aber egal wo du geht’s, bist neu. Hier alles weiss. Kolleginnen, Maschinen. Schichten passt schon. Ich finde gut.»
Anpassung als Strategie
«Solche Verläufe zeigen sich bei einigen Befragten der Studie mit stabilen Laufbahnen», sagt Eva Nadai, Soziologin und Dozentin an der Hochschule für Soziale Arbeit und Projektleiterin. «Es sind meist Personen, die sich mit der beruflichen Situation abfinden. Es ist nicht ihr Ziel, möglichst viel zu verdienen oder aufzusteigen. Anpassung als Strategie, um den Job zu behalten, ist durchaus sinnvoll, wenngleich manche dafür auch schlechtere Arbeitsbedingungen hinnehmen müssen», fügt sie hinzu. Zudem geht man, wie das Beispiel von Diana Kotevska zeigt, auch ein gewisses Risiko ein. Sie hat in den fast 20 Jahren im gleichen Betrieb keine Weiterbildung absolviert bzw. auch kein Angebot für eine solche erhalten. Das heisst, dass ihr Arbeitsvermögen und Know-how sehr stark betriebsgebunden sind und sie bei einem unfreiwilligen Stellenwechsel kaum etwas vorweisen könnte. Hier zeigte sich in der Studie ein zentrales Problem bei Stellen für niedrigqualifizierte Arbeitskräfte: Es gibt einen Mangel an Weiterbildungsmöglichkeiten für solche Personen, vor allem in der Industrie und im Einzelhandel.
Beruflicher Aufstieg ohne Ausbildung
Im Baugewerbe sieht es bezüglich Weiterbildungen für Angestellte ohne Ausbildung besser aus. Und in dieser Branche findet sich die Hälfte aller in der Studie befragten Personen, die aufsteigen konnten. So einer ist auch der 56-jährige Pablo Garcia*. Seit 40 Jahren arbeitet er auf dem Bau und sagt über seine Arbeit: «Der Bau ist mein Leben, ist mein Job. Ich fühle mich stolz auf meinen Beruf.» Einen Beruf hat er allerdings nie erlernt. Mit 14 Jahren muss er in Spanien die Schule abbrechen, weil sein Vater krankheitshalber erwerbsunfähig wird. Mit 18 Jahren wandert er aus. Mehrere Jahre lang arbeitet er im Sommer in der Schweiz, bis er nach fünf Jahren eine ganzjährige Aufenthaltsbewilligung erhält. Seine befristete Anstellung wird in eine unbefristete umgewandelt und er wird von der Lohnklasse der Hilfskräfte in diejenige der gelernten Maurer befördert. Während sein Einstieg in den Arbeitsmarkt durch die Notwendigkeit des Geldverdienens geprägt war, entwickelt Pablo Garcia mit der Zeit eine ausgeprägte Aufstiegsorientierung: «Und ich habe gesagt, ich will mehr, ich will irgendwann Polier werden.» Dieses Ziel erreicht er mit 28 Jahren. Damit hat er die höchste, ohne Lehrabschluss zugängliche Funktionsstufe erreicht.
Mit Ausnahme von zwei Interviewten, die einen nachhaltigen Aufstieg geschafft haben – es waren alles Männer –, haben alle formale Bildungsangebote in Anspruch genommen. Eva Nadai fügt dem an: «Es zeigte sich in den Interviews, dass aber auch die Selbstdarstellung wichtig ist. Die Aufsteiger inszenierten sich gezielt als kompetente und für den Aufstieg geeignete Arbeitskräfte.»
Prekäre Laufbahnen – tiefe Löhne und immer wieder arbeitslos
Neben Personen mit stabilen Laufbahnen und solchen, die sogar einen Aufstieg erreicht haben, traf das Forschungsteam aber auch auf Menschen mit prekären Erwerbsverläufen. Als prekär bezeichnen kann man Erwerbsverläufe von Personen, die nie eine sichere Anstellung hatten, tiefe Löhne haben oder immer wieder Phasen mit unfreiwilliger Erwerbslosigkeit zeigen. Was einigen Befragten unter anderem zu schaffen macht ist, dass häufiger über Personalverleiher rekrutiert wird und diese zunehmend Ausbildungszertifikate verlangen oder auch dass die Rekrutierung über Onlinekanäle läuft. Dies bringt eine Formalisierung des Bewerbungsprozesses mit sich, die sich für Geringqualifizierte nachteilig auswirkt. Neben neuen Rekrutierungsstrategien sind sie auch von Flexibilisierungsstrategien von Betrieben betroffen. Gesicherte Festanstellungen sind vielerorts nicht mehr vorgesehen. Viele mit prekären Verläufen wechseln zwischen den Branchen und haben häufig längere Unterbrüche ohne Job. Dies verhindert den Aufbau von Fachwissen oder betriebsspezifischem Wissen sowie die Bindung an ein Unternehmen. Bei den befragten Personen kommt es aufgrund von Arbeitslosigkeit oft zum Bezug von Sozialleistungen. Eva Nadai hält hier fest: «Es zeigte sich, dass Massnahmen zur Förderung von Beschäftigungsfähigkeit wie zum Beispiel Deutschkurse für Migrant*innen oder die Vermittlung eines Praktikums selten vorkommen. Vielmehr werden die Personen angehalten, jede Arbeit anzunehmen, und sei sie noch so prekär.»
Fazit: Auch ohne Ausbildung gibt es Chancen auf eine solide Laufbahn
Sozialpolitisch wird häufig darauf gedrängt, dass man in die Ausbildung investieren soll, um die Arbeitsmarktfähigkeit zu erhöhen. Im Forschungsprojekt wurde in der Analyse der Interviews klar, dass betriebliche Personalstrategien und ausserberufliche Faktoren sich als ebenso entscheidend für die Beschäftigungsfähigkeit erweisen wie individuelle Bildung. Ausbildungslosigkeit verhindert nicht zwingend eine stabile berufliche Laufbahn. Die Mehrheit der befragten Arbeitskräfte in der Studie war ein- oder mehrmals arbeitslos, aber nur ein Drittel der Erwerbsverläufe war insgesamt prekär. Vielmehr waren stabile Verläufe wie jene von Diana Kotevska am häufigsten und es gab auch Aufstiegskarrieren wie jene von Pablo Garcia.
Die Beschäftigungsfähigkeit hängt von vielen Faktoren ab
Eva Nadai fasst die Resultate so zusammen: «Unsere Studie zeigt, dass Beschäftigungsfähigkeit durch ein multidimensionales Zusammenspiel von Arbeitsangebot, betrieblicher Nachfrage und institutionellen und organisationalen Rahmenbedingungen hervorgebracht wird.» Anderseits sei aber Beschäftigungsfähigkeit nicht mit der Chance auf «gute Arbeit» gleichzusetzen, fügt sie an. «Es wurde in den Interviews deutlich, dass sich die geringqualifizierten Arbeitskräfte nur zu oft mit unterbezahlten, instabilen, gesundheitlich belastenden Jobs ohne Entwicklungsmöglichkeiten oder angemessenem Sozialversicherungsschutz begnügen müssen.» Ausgehend von den Studienresultaten schlägt das Forschungsteam als Verbesserung der Situation von Geringqualifizierten eine Regulierung und soziale Absicherung von Beschäftigungsverhältnissen, verbindliche existenzsichernde Mindestlöhne und die Durchsetzung bestehender kollektivvertraglicher Regelungen vor.
* Die verwendeten Personennamen sind Pseudonyme.