Gemeinsame Wissensgrundlage für die Zukunft des Wohnens im Alter

    Um gemeinsam die Zukunft des Wohnens im Alter gestalten zu können, ist eine fundierte Wissensgrundlage notwendig. Ein Gespräch zwischen Fleur Jaccard (Age-Stiftung) und Alexander Seifert (FHNW) gibt Rück-, Aus- und Einblick auf und in diese Arbeit.

    Unverzichtbar für unsere Zukunft: Wissensgrundlagen wie der Age Report ermöglichen effizientes und effektives Handeln im Sozialbereich. © Age-Stiftung, Foto: Reto Schlatter

    Wir alle werden älter, daran lässt sich nichts ändern. Was aber «älter werden» in Zukunft bedeutet – unsere Wünsche, Möglichkeiten und Ängste – darauf können wir gemeinsam Einfluss nehmen. Hierfür ist die ganze Gesellschaft gefragt: Privatpersonen, Gemeinden, gemeinnützige Organisationen, Unternehmen, Politik. Dabei treffen viele Perspektiven aufeinander. Um trotzdem eine geteilte Diskussionsgrundlage zu haben, ist eine fundierte Wissensbasis notwendig.

    Der Age Report ist eine solche Grundlage, die sich dem Thema «Wohnen im Alter» widmet. Wie dank interdisziplinärer Kooperation Wissen und Fakten entstehen und welche Entwicklungen sichtbar werden, haben wir bei Fleur Jaccard (Geschäftsführerin der Age-Stiftung) und Dr. Alexander Seifert (Mitherausgeber Age Report V und wissenschaftlicher Mitarbeiter der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW) nachgefragt.

    Interview mit Fleur Jaccard und Alexander Seifert

    Bereits zum fünften Mal ist der Age Report erschienen. Das sind 20 Jahre Daten über das Wohnen im Alter in der Schweiz. Haben sich die Themen in den letzten 20 Jahren verändert?

    Fleur Jaccard: In den letzten 20 Jahren ist es zu einigen Veränderungen gekommen. Viele ältere Menschen nehmen sich jünger wahr, als sie in Wirklichkeit sind. Dementsprechend werden altersspezifische Angebote teilweise nicht genutzt. Auch eine vermehrte Individualisierung des Wohnens ist feststellbar, möglichst selbstbestimmt und selbständig. Wohnumgebung und Nachbarschaft werden dabei sehr hoch gewichtet.

    Alexander Seifert: Ein Beispiel sind die Baby-Boomer. Sie haben neue Bedürfnisse an das Wohnen. Sie kennen und wünschen nicht mehr nur das Wohnen Zuhause oder im Pflegeheim. Auch digital-unterstütztes Wohnen wird wichtiger und trägt zur Selbstständigkeit bei. Heute gibt es mehr und neue Wohnformen, die nicht mehr nur in die Kategorien «Zuhause» oder «Heim» passen.

    Was wären solche Wohnformen?

    Alexander Seifert: Beispielsweise Alterswohnungen, betreutes Wohnen, Wohngemeinschaften oder Pflegewohngruppen. Diese Vielfalt bedeutet aber auch, dass die Personen sich frühzeitig mit den verschiedenen Wohnformen auseinandersetzen müssen, damit sie auch deren Vorteile geniessen können.

    Fleur Jaccard: Ja, die klassische Unterteilung «Daheim» oder «Heim» löst sich auf. Neben einem grösseren und stärker nachgefragten Angebot an Alterswohnungen mit Dienstleistungen gibt es viel mehr Wohnoptionen. Erstaunlicherweise wird der Wunsch nach gemeinschaftlichen Wohnformen nur von einer Minderheit der Befragten geäussert. Gleichzeitig sind die Haushalte kleiner geworden. Es zeigt sich ein Trend zu mehr Einpersonenhaushalten. Hier sind alleinlebende ältere Frauen übervertreten. Und Menschen mit wenig finanziellen Ressourcen und tiefem Bildungsstand. Das ist eine der grössten sozialpolitischen Herausforderung, gerade vor dem Hintergrund der hohen Wohnkosten bei gleichzeitiger Wohnungsknappheit.

    Portrait of Fleur Jaccard, Geschäftsführerin Age-Stiftung, © Age-Stiftung, Foto: Dan Cermak
    «Wie in jedem mehrdimensionalen Projekt ruckelt es hie und da. Das gehört dazu, wie das Salz in der Suppe. Alle haben ihr Bestes gegeben. Age Report geht nur mit Teamwork»
    Fleur Jaccard, Geschäftsführerin Age-Stiftung, © Age-Stiftung, Foto: Dan Cermak

    Neben mehr Möglichkeiten sind also auch neue Problemlagen entstanden oder bestehende haben sich verschärft?

    Fleur Jaccard: Leider zeigt sich in der Beurteilung der Wohn- und Lebenszufriedenheit vermehrt eine soziale Ungleichheit. Finanziell schlechter gestellte Rentner:innen wohnen oft in kleineren Wohnungen mit schlechter Wohnqualität (Lärm, Sicherheit, Wohnungsmängel) und haben aufgrund ihrer finanziellen Situation wenig aussenorientierte Aktivitäten. Hier stellen wir vermehrt sozialen Rückzug und Isolation fest.

    Der Age Report ist eine unter mehreren Erhebungen, die sich mit dem Thema Alter in der Schweiz beschäftigen. Was zeichnet den Age Report aus?

    Alexander Seifert: Besonders ist sicherlich das Vorgehen. Die Befragung erfolgte persönlich, face-to-face, also im direkten Kontakt mit den älteren Menschen. Bei über 2600 Personen ab 65 war also jemand vor Ort und hat sie befragt. Für die Auswahl der Personen wurde darauf geachtet, nicht einfach irgendwelche 65+-Jährigen zu erreichen. Die Zufallsauswahl der Teilnehmenden erfolgte innerhalb von festgelegten Kategorien – Altersgruppen, Wohngemeinden, Geschlecht. Mit diesen Massnahmen wurde sichergestellt, dass die Antworten höchste Qualität haben. Diese umfangreiche Studie zum Thema «Wohnen im Alter» ist einzigartig in der Schweiz.

    Fleur Jaccard: Und der Age Report ist exemplarisch für erfolgreiche Kooperation, von Stiftungen und von Hochschulen. Dank der engen Zusammenarbeit mit der Fondation Leenaards konnte die Befragung auf die ganze Schweiz erweitert werden. Die Kooperation mit den beiden Hochschulen (Hochschule für Soziale Arbeit FHNW, Haute école de travail social et de la santé HETSL) und einer Expertengruppe unterstreicht das professionelle wissenschaftliche Arbeiten.

    Wie drückt sich diese Kooperation im Age Report aus?

    Alexander Seifert: Dass der Age Report das Ergebnis von Kooperation ist, merkt man beim Lesen. Der zweite Teil, wo Themen zum Wohnen anhand von Praxisbeispielen und konzeptioneller Einordnung aufgegriffen werden, ergänzt die Datengrundlage schön. Dieser Teil schafft Kontext und Anknüpfungspunkte für kleine und grosse Projekte. Diese interdisziplinäre Perspektivenvielfalt macht den Age Report für viele hilfreich, nicht nur für die Gestaltung konkreter Unterstützungsangebote, sondern bis zur politischen Positionsfindung.

    Fleur Jaccard: Dieser Gedanke war uns wichtig. Die Age-Stiftung hat zudem erstmals eine Begleitbroschüre «Kompass» herausgegeben, die im Sinne einer Orientierungshilfe die wichtigsten Erkenntnisse zusammenfasst und Handlungsfelder skizziert. Damit soll der Dialog zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit gestärkt werden.

    Wie gestaltete sich die Zusammenarbeit? Gab es Erfolgsmomente oder auch Meinungsverschiedenheiten?

    Fleur Jaccard: Wie in jedem mehrdimensionalen Projekt ruckelt es hie und da. Das gehört dazu, wie das Salz in der Suppe. Alle haben ihr Bestes gegeben – Age Report geht nur mit Teamwork. Die Zusammenarbeit gestaltete sich vorbildlich. Das Projektteam, das aus Wissenschaftlern, Illustratoren, Gestaltern, Übersetzern, Webseiten-Programmierern und Stiftungsvertretenden bestand, war sehr motiviert und engagiert. Als ich bei der Buchvernissage das volle Casino Bern sah und die vielen positiven Zusprüche nach der Veranstaltung entgegennahm, war das für mich persönlich ein schöner Erfolgsmoment.

    Erfolgsmoment Buchvernissage: Das Projektteam stellt den fertigen Age Report im Casino Bern vor. © Age-Stiftung, Foto: Reto Schlatter.

    Alexander Seifert: Wir mussten bei der Erarbeitung des Buches oft Sprachbarrieren überwinden. Auch verschiedene Fachgebiete mussten miteinander verbunden, bestehende Begriffe und Perspektiven in eine gemeinsame Sprache übersetzt werden. Und nicht zuletzt war die Reflektion der empirischen Erkenntnisse mit Erfahrungen aus der Praxis wertvoll. Dennoch hat gerade diese mehrdimensionale Auseinandersetzung das Endprodukt besser reifen lassen.

    Zuletzt noch einen (spekulativen) Blick in die Zukunft: Wie denken Sie, könnte die Lebenssituation für Menschen im Alter in 20 Jahren aussehen?

    Fleur Jaccard: Wenn wir den technologischen Fortschritt klug nutzen, unseren Lebensraum schützen und die frei gewordenen Ressourcen für echte Zuwendung und Empathie einsetzen, werden Menschen in 20 Jahren selbstbestimmt und dort, wo nötig, achtsam begleitet, alt werden und sterben können. Wir sollten alle daran arbeiten, dass ein würdevolles Altern möglich wird und dies nicht von den eigenen Ressourcen abhängt.

    Alexander Seifert: Das Wohnen der Zukunft wird vermutlich noch ausdifferenzierter werden. Digitale Lösungen werden in 20 Jahren nicht mehr was Besonderes sein, somit wird das Wohnen und Leben der Zukunft digitale Kompetenzen voraussetzen. Dennoch werden soziale Ungleichheiten auch in 20 Jahren bestehen. Vielleicht gibt es auch neue Ungleichheiten, gerade in Bezug auf digitale Kompetenzen. Deswegen bleibt es auch in Zukunft wichtig, das Leben von älteren Menschen in der Schweiz zu beobachten und systematisch zu erfassen, um auf dann aktuelle Herausforderungen Antworten zu liefern.

    Einblicke in die Themen des Age Report V

    Weitere Informationen

    Der Age Report erscheint alle fünf Jahre und gibt seit 20 Jahren einen fundierten Überblick über aktuelle Herausforderungen und zukünftige Entwicklungen rund um die Themen Wohnen und Älterwerden in der Schweiz. Die fünfte Ausgabe setzt sich mit dem Schwerpunktthema «Nachbarschaft und Wohnumgebung» auseinander. Zum Age Report: www.age-report.ch

    Die Age-Stiftung hat gemeinsam mit der Fondation Leenaards, HETSL - Haute école de travail social et de la santé Lausanne und der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW ältere Menschen in der Schweiz zum Thema Wohnen im Alter befragt. Der Age Report wird durch die Age-Stiftung mitkonzipiert und von ihr zusammen mit der Fondation Leenaards finanziert.

    Die Age-Stiftung ist eine unabhängige Förderstiftung, die sich mit gesellschaftsrelevanten Fragen rund um das Älterwerden auseinandersetzt. Ein besonderes Augenmerk legt sie auf Menschen in vulnerablen Lebenslagen und fragilen Phasen.

    Die Age-Stiftung setzt sich für zukunftsfähige Lösungen ein, damit ältere Menschen bis ans Lebensende selbstbestimmt leben können und gesellschaftlich eingebunden sind. Dies tut sie mit ihren drei Geschäftsfeldern: «Public Affairs», «Förderung» und «Partnerschaften».

    Weitere Informationen: www.age-stiftung.ch

    Der Schwerpunkt Menschen im Kontext von Alter bearbeitet und analysiert aus der Perspektive der Sozialen Arbeit die individuellen und gesellschaftlich geformten Lebenslagen und Gestaltungsräume von älteren und hochaltrigen Menschen. Im Fokus steht dabei die Wahrung und die Förderung der Unabhängigkeit und Selbstorganisation, sowie die Erschliessung und Aktivierung von Kapitalien, Ressourcen und Kompetenzen. Die Stärkung familialer und sozialer Netzwerke, die Verhinderung sozialer Ausgrenzung und Förderung sozialer Partizipation sowie die Erweiterung verengter Handlungsspielräume älterer Menschen sind weitere zentrale Anliegen.

    Die Hochschule forscht zum Thema, evaluiert und konzipiert Unterstützungsangebote und trägt durch ein Weiterbildungsangebot zu Qualifikation von Fachkräften bei. Ausführliche Informationen zur Tätigkeit der Hochschule für Soziale Arbeit finden Sie hier: https://www.sozialearbeit-alter.ch/