Die Vermessung des Knies
Eines der grössten und wichtigsten Gelenke des Menschen ist das Knie. Wenn es beschädigt ist, kann es durch ein Implantat ersetzt werden. Alex Ringenbach von der HLS hat jetzt ein Programm geschrieben, das ein individuelles 3D-Modell von Ober- und Unterschenkelknochen aus Magnetresonanztomografie-Bildern erzeugen kann. Dieser Algorithmus beschleunigt die Erstellung von passgenauen patientenspezifischen Schablonen, mit denen Chirurgen künftig neue Kniegelenksimplantate einfacher und genauer positionieren und einsetzen können.
Das Einsetzen von Knie-Implantaten gehört seit Jahren zum Standard-Repertoire von Chirurgen. Doch selbst heute ist eine solche Operation noch mit viel Planungsaufwand verbunden, der durch die anatomischen Unterschiede zwischen den einzelnen Patienten bedingt ist: Ein Implantat ist ein künstliches Element und muss sich in ein lebendes System, den Körper, einfügen. Kein Knie gleicht dem anderen, und ebenso verschieden müssen die Implantate während der Operation positioniert werden. Um sie passgenau einzusetzen und die Gelenkfunktion zu gewährleisten, verwenden Chirurgen heute oftmals Schnittschablonen. Diese werden auf dem Oberschenkelknochen und dem Schienbein befestigt und geben dem Chirurgen Orientierung für seinen Schnitt durch den Knochen, auf dem das Implantat verankert wird. Um solche Schnittschablonen zu erstellen, braucht man ein genaues, virtuelles 3D-Modell, das Alex Ringenbach vom Institut für Medizinal- und Analysetechnologie aus Magnetresonanztomografien (MRT) gewinnt. Für den Forscher ist der Vorteil dieser Methode klar: «Bisher wurden solche Modelle von Hand erstellt. Das dauert um die fünf Stunden. Wir haben einen Algorithmus geschrieben, der dieselbe Aufgabe in weniger als zehn Sekunden erledigt.» Für das Projekt arbeitet Ringenbach mit der Brugger Firma Medivation AG zusammen, welche den Segmentierungs-Algorithmus in ein Planungstool zur Herstellung von Schablonen integriert.
Bevor das Programm allerdings den dreidimensionalen Bauplan für die Schnittvorlage liefert, sind einige Schritte notwendig. Die zentrale Aufgabe des Algorithmus ist die sogenannte Segmentierung, bei der das Programm entscheiden muss, ob ein Punkt in einem MRT-Schnittbild Knochen, Knorpel oder anderes Körpergewebe darstellt – ein klassisches Problem der maschinellen Bilderkennung, wie Ringenbach erklärt: «Für einen Menschen ist das viel einfacher als für einen Computer, weil der Mensch bereits Vorwissen hat. Er weiss, wie die Form des Knochens aussieht und kann ein Bild davon im Kopf vervollständigen, weiss also intuitiv, was Knochengewebe und was andere Strukturen sind. Nur aus den Signaldaten, die im MRT- Bild als verschiedene Grautöne zu sehen sind, lässt sich das nicht feststellen.»
Für das Implantieren einer Knieprothese muss die Geometrie des Knies aus Bilddaten erfasst werden. Das dauert mit unserem Algorithmus nur noch zehn Sekunden – gegenüber vorher fünf Stunden.
Das Forschungsteam verwendet aus diesem Grund das sogenannte Active Shape Model. Dabei lernt das Computerprogramm zunächst von Schnittbildern, die ein Arzt oder eine Ärztin manuell segmentiert haben, wie der Knochen geformt ist und wie die nähere Umgebung der Knochenoberfläche am wahrscheinlichsten aussieht. Aus zehn bis zwanzig Datensätzen erstellt der Forscher mithilfe des Computers ein Knochenmodell. Dieses enthält die Durchschnittsform, die Formvariabilität sowie Informationen zur Knochenumgebung und schliesst damit unser Vorwissen ein, mit dessen Hilfe sich ein Bild zuverlässig segmentieren lässt.
Zur Segmentierung eines Bilddatensatzes wird das Modell mit dem Vorwissen dann praktisch eingesetzt: Es werden die Bildwerte in der Umgebung des Modells erfasst, mit diesem verglichen und die Position und die Form des Modells entsprechend angepasst. «Man muss kreativ sein, um die richtigen Parameter für das Modell zu finden und den Segmentierungsprozess zu optimieren», so Ringenbach. Andere Herausforderungen lägen in der MRT-Untersuchung selbst, erklärt Ringenbach:
«Jeder Patient nimmt in der Röhre des MRT-Geräts eine andere Position ein, das heisst, bei jedem sind die Knochen an einer anderen Stelle im Bild zu sehen, sodass es kein allgemein verwendbares Koordinatensystem gibt.» Für das Modell müssen daher mithilfe aufwendiger mathematischer Methoden sowohl die individuellen MRT-Datensätze als auch die der vermessenen «Durchschnittsknochen» bestmöglich übereinandergelegt werden. Diesen Prozess, der verschiedene Datensätze miteinander vergleichbar macht, nennen Wissenschaftler Registrierung. Er ist im Verlauf der 3D-Modellerstellung der zeitlich längste: Aufgrund der komplizierten mathematischen Operationen kann er bis zu mehreren Tagen dauern, muss dafür aber nur einmal durchgeführt werden.
Ausserdem variieren die Daten von MRT-Aufnahmen je nach Gerät oft stark, da die Signale nicht normiert sind. Infolgedessen hat man grosse Unterschiede in den maximalen Intensitäten der einzelnen Bildpunkte – so wie bei Fotos mit verschieden starken Kontrasten. Der neue Algorithmus ist jetzt so programmiert, dass er auch diese systematischen Abweichungen der einzelnen Schnittbilder korrigieren kann.
Den Aufwand sieht Ringenbach jedenfalls gerechtfertigt: «Knie-Implantationen betreffen oft ältere Menschen, deren Knochen fragiler sind und Zeichen für Verschleiss wie zum Beispiel Knochensporne haben. Wenn da die Schablonen nicht passen, rutschen sie ab.» Mit den Algorithmen hat der Partner von Ringenbach, die Medivation AG, ein Planungsinstrument entwickelt, mit dem erste eigene Schnittblöcke produziert und erste Operationen erfolgreich durchgeführt werden konnten. Weitere Anwendungen sind vorgesehen.