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Im Wettlauf gegen die Zeit

Ob ein Medikament hilft oder nicht, hängt von mehr ab als seinem Wirkstoff.

So muss dieser erst an den Ort gelangen, wo er angreifen soll. Doch je spezifischer die neuen Wirkstoffe werden, desto komplexere und grössere Moleküle muss man entwickeln. Als Folge davon sind sie oftmals schlecht löslich und können nur schwer aus dem Magen-Darm-Trakt in die Blutbahn aufgenommen werden. Der Pharmazeut Martin Kuentz arbeitet daher an der HLS an einem lipidbasierten System, das selbst schwerstlösliche Stoffe verlässlich in gelöster Form im Magen-Darm-Trakt transportiert.

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Nur etwa vier Stunden hat der Körper Zeit, um Nährstoffe, Vitamine und Medikamente aus dem Magen und Dünndarm aufzunehmen. Danach wird der Dickdarm erreicht, in dem kaum noch Substanzen zur Absorption gelangen, sodass sie schliesslich ausgeschieden werden. Damit in der kurzen Zeit möglichst viel der helfenden Substanzen in den Kreislauf gelangt, müssen die Wirkstoffe in gelöster Form vorliegen. Bei wasserlöslichen Molekülen, wie Zucker oder Vitamin C, ist das kein Problem, denn der Körper kann sie leicht aufnehmen. Viele Medikamente sind allerdings schlecht wasserlöslich, da sie sich entweder gar nicht mit Wasser mischen oder kristallisieren. Ibuprofen, ein Wirkstoff, der in zahlreichen Schmerzmitteln vorkommt, ist ein typisches Beispiel. «Manche Stoffe sind so schlecht löslich wie ein Stein», bemerkt Martin Kuentz vom Institut für Pharmatechnologie und ergänzt: «Was im Magen oder Darm kristallisiert, ist meistens verloren.»

Seit zehn Jahren entwickelt der Pharmazeut an der HLS neue Arzneistoff-Formulierungen. So bezeichnen Fachleute die Zusammensetzung der Medikamente: Neben Wirkstoffen enthalten Arzneien auch Hilfsstoffe, die zum Beispiel die Haltbarkeit erhöhen oder Nebenwirkungen unterdrücken. Zu den wichtigsten Aufgaben der Hilfsstoffe gehört auch, dass sie die Aufnahme des Wirkstoffes in die Blutbahn gewährleisten.

In Zusammenarbeit mit dem Unternehmen DSM hat das Forschungsteam um Kuentz nun eine neue Technologie entwickelt, die ein Kristallisieren der Wirkstoffe effektiv verhindert: Sogenannte «Designed  Lipid Micro domains» (DLM) nehmen die Wirkstoffe ähnlich wie ein Schwamm auf, nur dass diese DLM lediglich wenige Mikrometer gross sind. Diese Mikrodomänen stabilisieren die Moleküle des Arzneimittels, indem sie verhindern, dass sich diese zu nahe kommen. Wäre das der Fall, würden die Stoffe aufgrund ihrer hohen Affinität zueinander kristallisieren.

Die DLM bestehen aus mehreren Komponenten, die mittels Schmelzextrusion – einem Prozess aus der Polymertechnik – mit dem Wirkstoff zusammengefügt werden. Das Produkt dieser Methode ist eine feste Dispersion, also ein Gemisch von mehreren Stoffen, die sich normalerweise nicht miteinander verbinden. Polymere haben dabei traditionell die Rolle des Dispersionsmittels eingenommen, welches die Wirkstoffe aufnimmt. Da dies jedoch zu Problemen durch die Kristallisation von Wirkstoffen im Arzneimittel oder später im Magen-Darm-Trakt

 führen kann, verwenden Kuentz und sein Team jetzt neben den Polymeren auch Lipide und ein anorganisches Trägermaterial (Aluminium-Magnesium- Silikat). Die Lipide nehmen den Wirkstoff meist gut auf, aber bei der Schmelzextrusion können auch diese Hilfsstoffe selbst auskristallisieren und stehen somit für den Wirkstoff nicht mehr zur Verfügung. «Um dies zu vermeiden, brauchen wir das an- organische Trägermaterial. Dieses interagiert mit den Lipiden, indem sich deren lange Kohlenwasserstoffketten nicht mehr zu nahe kommen», erklärt Kuentz. «Da der Wirkstoff sehr gut fettlöslich ist, finden dessen Tröpfchen nach Erhitzen und intensivem Mischen während der Schmelzextrusion ganz leicht ihren Weg in die Zwischenräume der Lipidketten.»

Unser Anliegen ist es, mittels moderner Formulierungstechnologie Arzneistoffe bioverfügbar zu machen, um wesentlich zur pharmazeutischen Wertschöpfung beizutragen.

Martin Kuentz

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Um festzustellen, wie gut diese Mechanismen tat- sächlich funktionieren, bedienten sich die Forschenden verschiedener analytischer Methoden. Neben spektroskopischen Techniken wie Kernresonanzspektrometrie und Infrarotspektroskopie zur Untersuchung organischer Bestandteile haben sie auch mit bildgebenden Verfahren gearbeitet. Dabei wollten sie herausfinden, inwieweit kristalline Bereiche in den DLM vorhanden sind oder nicht. «Die Antwort darauf lässt sich nur mithilfe einer Kombination von mehreren hochspezifischen Methoden finden», betont Kuentz. Am wichtigsten ist die sogenannte Atomkraftmikroskopie, kurz AFM (engl.: atomic force microscopy), bei der eine winzige Blattfederspitze die Probe Nanometer für Nanometer abtastet. Die Auslenkung der Blattfeder gibt Aufschluss über die Oberflächenbeschaffenheit der Probe.

Wenn man diese Spitze in die Probe eindringen lässt, kann man die Härte des Materials bestimmen. Man spricht hier von Phasenkontrast, da die kristallinen Phasen im Allgemeinen härter sind als die nicht kristallinen und so zu einem Kontrast im Bild führen. Aber erst die Kombination mit anderen Analysemethoden, wie zum Beispiel konventioneller Rasterelektronenmikroskopie, erlaubt eine sichere Aussage darüber, ob bestimmte harte Bereiche in der Probe tatsächlich kristallin sind. Kuentz und sein Team analysierten auch, aus welchen chemischen Elementen die Mikrodomänen zusammen- gesetzt sind. Dafür verwendeten sie ebenfalls ein Rasterelektronenmikroskop, kombinierten es jedoch mit einem Röntgenbeugungsexperiment. Nach der Schmelzextrusion liegt der Wirkstoff in den DLM als amorphes Material vor, also in fester, aber nicht kristalliner Form. Dieser Zustand hat sich in der modernen pharmazeutischen Technologie am besten bewährt, um die Aufnahme von Medikamenten mit wasserunlöslichen Wirkstoffen über den Magen-Darm- Trakt zu ermöglichen. «Abgesehen davon, dass die DLM eine ausreichende Haltbarkeit  der Wirkstoffe  für  deren Lagerung gewährleisten, bleiben sie auch unter den natürlichen Bedingungen in Magen und Darm als wässrige Dispersion besonders stabil», erklärt Kuentz. Somit kann der Körper die amorphen Wirkstoffe aus den DLM rechtzeitig aufnehmen, bevor sie ausgeschieden werden. Für Kuentz ist die Aufgabe mit der Aufnahme des Wirkstoffs im Magen-Darm-Trakt erledigt: «Sobald es zur Absorption kommt, ist unsere pharmazeutisch- technologische Mission erfüllt.»

«Das von uns entwickelte Wirkstoffabgabe-System ist auf kleine Dosierungen hochpotenter Arzneistoffe ausgelegt, kann aber für eine Vielzahl an Stoffen verwendet werden, die eine Tendenz zum Kristallisieren haben», beschreibt Kuentz das Potenzial der DLM. So haben er und sein Team ihre DLM-Untersuchungen mit dem schwer wasserlöslichen Beta-Karotin durchgeführt, einer Vorstufe von Vitamin A. Ihre erfolgreichen Experimente zeigen, dass die Technologie keineswegs nur im medizinischen Bereich Zukunft hat. Auch diätetische Mittel könnten künftig damit verabreicht werden.

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