Reha durch virtuelles Bäumchen
In der Schweiz erleiden etwa 16'000 Menschen pro Jahr einen Schlaganfall. Viele von ihnen können ihren Arm oder ihr Bein nicht mehr richtig bewegen und brauchen schon für kleine Verbesserungen sehr lange. Das kann entmutigen. Um den Betroffenen zu helfen, haben Forschende der HLS in einem Kooperationsprojekt eine App mit Bewegungstracker entwickelt. Diese unterstützt insbesondere die Rehabilitation der Arme. Das raffinierte Belohnungssystem der App motiviert Patientinnen und Patienten und hilft ihnen bei gezielten Übungsaufgaben.
Viele Menschen verlieren nach einem Schlaganfall die Selbstständigkeit. Oft können sie weder laufen, noch etwas greifen oder die Gabel zum Mund führen. Grund dafür ist eine halbseitige Lähmung, auch Hemiparese genannt. Diese ist besonders im Armbereich sehr ausgeprägt. Ein Team um Denise Baumann vom Institut für Medizintechnik und Medizininformatik der HLS hat deshalb gemeinsam mit Partnerinnen und Partnern aus Wirtschaft und Forschung einen Weg gesucht, um den Kranken bei der Wiedererlangung ihrer Hand- und Armfunktion zu helfen.
In dem von Innosuisse geförderten Projekt namens ISEAR (Integriertes System zur Ermutigung für die Arm-Rehabilitation) ist ein spezielles Armband mit dazugehöriger Handy-App der Schlüssel zum Erfolg. Die Medizintechnik-Ingenieurin Baumann erklärt: «In der ersten Rehabilitationsphase bemerken die Kranken, dass ihre körperlichen Fähigkeiten nicht spontan zurückkehren. In einer späteren, chronischen Phase werden einige Fähigkeiten sogar noch schlechter, da der beeinträchtigte Körperteil nicht mehr benutzt wird. Genau da setzen wir an.»
Die Patientinnen und Patienten sollen dazu ermuntert werden, ihren Arm zu bewegen. Denn bereits unkoordinierte Bewegungen helfen, dass neue Nervenzellverbindungen geschaffen werden, um verlorene Funktionen zu übernehmen. Fachleute nennen diese Anpassungsfähigkeit des Gehirns Neuroplastizität. Dieser Effekt verstärkt sich durch wiederholte und kontrollierte Bewegungen. Nach einem Schlaganfall haben Betroffene deshalb schon in der Klinik eine intensive Physiotherapie und bekommen für zu Hause ein Übungsprogramm. «Damit das Training auch zu Hause erfolgreich ist, sind zwei Faktoren wichtig: die eigene Motivation und die Intensität», sagt Baumann.
Schon Gesunde wissen, welch positiven Effekt ein Schrittzähler am Handgelenk haben kann. Auf demselben Prinzip beruht auch der Tracker für die Armrehabilitation, der von der Firma yband therapy AG entwickelt wurde. Er verfügt, wie ein Schrittzähler, über Beschleunigungs- und Lagesensoren. Aus deren Daten kann er durch einen an der HLS entwickelten Algorithmus die Schrittzahl berechnen. Das Kooperationsteam an der ETH Zürich entwickelte zusätzlich den Algorithmus zur Erkennung der Armaktivität. Beide Algorithmen sind im Mikrocontroller des Armbands hinterlegt. Die registrierten Parameter werden lokal im Armband gespeichert und mit der zugehörigen App «ArysMe» via Bluetooth synchronisiert und ausgewertet. Baumann und ihr Team an der HLS haben diese App für iOS und Android programmiert. «Die grösste Herausforderung lag darin, dass die Bewegungen korrekt erkannt und quantifiziert werden», berichtet Baumann, «also welche Signale oder Signalfolgen überhaupt als echte Bewegung zählen, welches Bewegungsmuster sie bilden und wie oft sie sich wiederholen. Diese Daten bilden die Grundlage für das Belohnungssystem.» Das virtuelle Belohnungssystem heisst «Tree of Recovery», was etwa so viel bedeutet wie «Baum der Genesung», und entstammt einer Idee von zwei Bachelorstudenten der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK). Der Tree of Recovery ist als Bäumchen in der App sichtbar und wächst nur, wenn jemand aktiv war. Sobald vordefinierte Tagesziele erreicht oder Übungen korrekt ausgeführt wurden, verteilt das System als Belohnung virtuelle «Abzeichen». Diese kann man in virtuelles Giesswasser umwandeln, um seinen Tree of Recovery zu giessen und den Fortschritt in der Genesung zu sehen. Am Anfang zeigt die App nur ein paar grüne Hügel und ein Bächlein. Der Recovery Tree beginnt als Keimling, der immer grösser wird und schliesslich den ganzen Bildschirm ausfüllt, wenn er regelmässig «Wasser» bekommt. Mit der Zeit «wachsen» auch Blätter und Blüten und es stossen Tiere zur Szenerie. Vernachlässigt jemand sein Training, behält der Baum zwar seine bisherige Grösse, trocknet aber aus. Durch das visuelle Feedback sollen die Patientinnen und Patienten motiviert werden, weiter an der Verbesserung ihrer Motorik und den individuellen Tageszielen zu arbeiten. Ein geeignetes Tagesziel errechnet der Tracker aus der durchschnittlichen Armaktivität. Zudem gibt es weitere Aufgaben, die man erfüllen muss, um Wasser für den Baum zu bekommen. «Drei Minuten intensive Armaktivität pro Tag ist eine solche Aufgabe», sagt Baumann. Der Tracker erkennt die Ausprägung der Bewegungen und stuft sie so als intensiv oder weniger intensiv ein. Ausserdem lassen sich auch bereits gespeicherte Übungen trainieren. Dazu gehört etwa, dass man nach einem Gegenstand greift oder ihn zielgerichtet zum Mund führt. Eine Fachperson für Physiotherapie zeigt zunächst, wie die Übung geht, und die Patientin oder der Patient ahmt sie nach, bis sie möglichst ideal ist. Die Übung wird als Aufnahme im Tracker gespeichert und dient so als Bewegungsvorlage. Die App stellt die aufgezeichnete Vorlage später den täglichen Übungen gegenüber und vergleicht die Bewegungsmuster. Ist eine Übung korrekt, gibt es dafür eine virtuelle Belohnung, die den Recovery Tree wachsen lässt. Zudem können Fachpersonen für Physiotherapie über die professionelle App «Arys pro» die Daten zur Armbewegung vergleichen und so den individuellen Fortschritt besser einschätzen. Um die Betroffenen zusätzlich zum Training zu motivieren, wurde eine Reminder-Funktion in das Armband eingebaut, die mittels Vibration an die Übungen erinnert.
Diese und andere Funktionen werden derzeit in einer klinischen Studie mit Patientinnen und Patienten am Universitätsspital Zürich untersucht. Die Forschenden interessiert, ob die Betroffenen mit der App und dem Armband gut zurechtkommen und ihre Armfunktion wiedererlangen und ob in der App noch Funktionen fehlen. Mit ihrer Arbeit hoffen sie, möglichst vielen Patientinnen und Patienten den Weg zurück in die Selbstständigkeit zu erleichtern.