8.5.2020 | Hochschule für Soziale Arbeit
Auf den Kindesschutz kommt eine ganz eigene zweite Welle zu – die Coronakrise und ihre Folgen für das Kindeswohl
70 Vertreter*innen der Kindesschutzprofessionen haben sich am 7. Mai 2020 per Videokonferenz über die Situation des Deutschschweizer Kindesschutzes in der Coronakrise beraten. Geladen hatten die Interessensgemeinschaft für Qualität im Kindesschutz (IGQK), CURAVIVA Schweiz und das Institut für Kinder- und Jugendhilfe der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW.
Die zentrale Frage der Videokonferenz mit Vertretr*innen der Kinderschutzprofessionen war: «Wie gelang es der Schweiz im Lockdown und wie gelingt es ihr zukünftig im Zuge der Lockerung der Coronamassnahmen, gefährdeten Kindern Schutz vor Übergriffen und Gewalt zu bieten? Denn Kindesschutz muss auch in Krisen handlungsfähig bleiben. In Beratungsstellen, Sozialdiensten und Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden mangelt es oft an der technischen Infrastruktur, die ein Arbeiten auf Distanz, z. B. im Homeoffice, möglich macht. Auch Schutzmaterialien fehlen, um persönliche Kontakte wahrzunehmen. Kinder- und Jugendheime stehen zudem vor der Herausforderung, das Besuchsrecht zwischen Kindern und Eltern unter Berücksichtigung der empfohlenen Massnahmen zu gestalten. Der gesellschaftliche und mediale Diskurs hat sich überwiegend um gesundheitliche und später um wirtschaftliche Aspekte gedreht, selten wurden ethische und pädagogische Aspekte diskutiert. So geriet das Wohl von Kindern, Jugendlichen und ihren Familien unter den veränderten Umständen aus dem Blickfeld, genauso wie die Arbeitsfähigkeit der Sozialdienste, Einrichtungen und Behörden.
«Für eine erneute Krise wollen wir gerüstet sein», sagt Martina Valentin, Projektleiterin bei CURAVIVA Schweiz, «darum gilt es jetzt, die Akteure im Bereich Kinder und Jugendliche zu koordinieren und gemeinsam Empfehlungen zum Schutz des Kindeswohls aus sozialpädagogischer und ethischer Sicht zu entwickeln. Die gesellschaftliche Relevanz von Kindesschutz muss von der Öffentlichkeit und Politik anerkannt werden. Breit getragene Empfehlungen bieten sozialen Institutionen Orientierung für künftige Herausforderungen. Ziel muss es sein, dass der Kindesschutz auch in zukünftigen Krisen stabil und handlungsfähig bleibt.»
Für die Sozialdienste war die Einschränkung des direkten persönlichen Kontakts eine besonders markante Veränderung. Onlinetools mit Videofunktion und telefonische Gespräche per Diensthandy – sofern die Fachpersonen diese überhaupt zur Verfügung haben – sind aber oft nur ein matter Ersatz für das persönliche, analoge Gespräch mit Kindern und Familien. Viele wichtige Informationen über die Lebensumstände von Familien gehen verloren, Wohnungen werden nicht gesehen, Gespräche können nicht in der notwendigen Tiefe geführt und Arbeitsbeziehung nur schwer aufgebaut werden. Dies betrifft vor allem Situationen, in denen der Kontakt zu in ihrem Wohl gefährdeten Kindern und Familien erst einmal aufgebaut werden muss. In solchen Fällen ist es zudem unerlässlich, dass Fachpersonen Kinder persönlich sehen und mit ihnen sprechen.
Hinzu kommt: In vielen Familien leben Risikopatientinnen und -patienten. Fehlende Schutzausrüstung zwingt die Fachpersonen in der Folge häufig zu einer Abwägung zwischen Kindesschutz und Gesundheitsschutz. Stefan Schnurr, Leiter des Instituts für Kinder- und Jugendhilfe an der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW dazu: «Kindesschutz und Gesundheitsschutz sind nicht teilbar. Bei knappen Ressourcen und fehlender Ausrüstung können sie leicht gegeneinander ausgespielt werden. Das darf nicht passieren.»
Sorgen macht derzeit die Tendenz, dass deutlich weniger Gefährdungsmeldungen eintreffen – nachdem man sich zunächst auf einen steilen Anstieg einstellte. Stellenweise konnte zwar beobachtet werden, dass Familien über bemerkenswerte Kompetenzen verfügen, wenn es darum geht, mit Krisen umzugehen. Dennoch: Die Last von Existenznot, sozialer Isolation im Lockdown und Homeschooling bietet einen Nährboden für Krisen – und auch für Kindeswohlgefährdungen. Die Fälle spielen sich derzeit aber häufiger im Verborgenen ab – Schulen und Tagesbetreuungsstrukturen konnten ihre wichtige Rolle als Einrichtungen, die Gefährdungsanzeichen wahrnehmen und nötigenfalls an die KESB weitermelden, seit dem 16. März 2020 nicht wahrnehmen. Erwartet wird nun eine Welle an Gefährdungsmeldungen, wenn ab 11. Mai die Kindergärten und Schulen wieder öffnen.
«Auf den Kindesschutz kommt eine ganz eigene zweite Welle zu», sagt Kay Biesel, Präsident der Interessengemeinschaft für Qualität im Kindesschutz. «Mit der Wiedereröffnung der obligatorischen Bildungseinrichtungen werden viele problematische Situationen in Familien wieder öffentlich sichtbar. Familien, die bereits vor dem Lockdown Herausforderungen bei der Alltagsbewältigung hatten, könnten unter noch grösseren Belastungen leiden. Sie mussten aufgrund der gesundheitlichen Vorschriften ihre Bedürfnisse lange zurückstecken und haben überdies nun auch noch zusätzlich finanzielle Probleme aufgrund von Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit. Kinder, Jugendliche und Familien benötigen nun dringend kostenlos zugängliche Angebote der Kinder- und Jugendhilfe, um entlastet und bei der Entwicklung tragfähiger Zukunftsperspektiven unterstützt zu werden.»