16.2.2024 | Fachhochschule Nordwestschweiz, Hochschule für Soziale Arbeit
«Man sollte das Gesamtsystem betrachten»
Carlo Knöpfel von der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW hat die finanzielle Situation alter Menschen in der Schweiz untersucht. Er sagt: Die AHV-Abstimmungen betrachten das Thema der Altersarmut zu eng. Es geht auch um die Ausgaben. Die Höhe des verfügbaren Einkommens ist entscheidend.
Carlo Knöpfel, Sie haben eine Studie 2021 zu den finanziellen Spielräumen älterer Menschen in der Schweiz veröffentlicht. Wie geht es älteren Menschen materiell?
Die Frage pauschal zu beantworten ist unmöglich, denn die Unterschiede sind sehr gross. Es gibt ältere Leute, denen es finanziell gut geht, aber auch viele, die nur knapp über die Runden kommen und keine Rücklagen haben. Wichtig ist, nicht nur die Einnahmen, sondern das verfügbare Einkommen anzuschauen. Was am Ende vom Monat übrig bleibt, hängt stark vom Wohnort und dem Gesundheitszustand ab.
Inwiefern ist der Wohnort wichtig?
Der Wohnort wirkt sowohl auf die Ausgaben als auch auf die Einnahmen. Bei den Ausgaben sind es die Fixkosten wie die Miete und Preise für Gesundheitsleistungen, die von Ort zu Ort sehr unterschiedlich sind. Dazu hat jede Gemeinde und jeder Kanton andere Steuern und Krankenkassenprämien. Und bei den Einnahmen gibt es an einem Ort mehr Beihilfen als im Nachbarort. Von 1 000 Franken Einkommen kann zum Beispiel in Liestal unter dem Strich mehr übrigbleiben als in der Stadt Basel, aber weniger als in Solothurn.
Und welche Rolle spielt die Gesundheit?
Wenn ältere Menschen pflegebedürftig werden, ändert sich ihre finanzielle Situation. Je nach Sozialangebot des Wohnorts sind die Kosten und Beihilfen für die Spitex oder Pflege unterschiedlich und damit auch das verfügbare Einkommen. In einem Extrembeispiel, das wir berechnet haben, kostet die Spitex einen Rentner in Bern 21 000 Franken pro Jahr, während im benachbarten Fribourg in der gleichen Lebenssituation nur 2 200 Franken verrechnet werden.
Wie gross ist das Problem der Altersarmut?
Etwa 10 Prozent der Neurentner*innen können von ihrer Rente und ihrem Vermögen nicht leben. Sie können Ergänzungsleistungen beantragen. Wenn man zudem die Pflegebedürftigen anschaut, können etwa 50 Prozent von ihnen die Kosten für ein Heim oder Betreuung nicht bezahlen und müssen dann Ergänzungsleistungen beantragen. Diese Menschen waren aber nicht unbedingt arm, bevor sie gepflegt werden mussten.
«Eine deutliche Erhöhung der AHV-Mindestrenten wäre ein wirksames Mittel gegen Altersarmut.»
Welche Auswirkung hätte denn eine Annahme der Initiative für eine 13. AHV-Rente auf die finanzielle Situation der älteren Menschen?
Auch das lässt sich nicht generell beantworten, weil die Effekte auf das verfügbare Einkommen wieder je nach Wohnort und gesundheitlicher Situation betrachtet werden müssen. Es ist auch nicht möglich, Kategorien zu bilden, etwa zu sagen, dass Städter mehr profitieren würden als Frauen auf dem Land. Die Auswirkungen wären je nach individueller Lebenslage unterschiedlich. Deswegen vermisse ich im aktuellen AHV-Abstimmungskampf eine breitere und differenzierte Debatte um das Thema Altersvorsorge.
Wie müsste eine solche differenzierte Debatte aussehen?
Man muss die gesamte finanzielle Situation in den Blick nehmen und nicht die AHV isoliert: Dazu gehören die gesamten Einnahmen, das Vermögen und die Ausgaben. Dabei muss man nach Region und Gesundheitszustand unterscheiden und so schauen, welches Einkommen unter dem Strich zur Verfügung steht.
Letztendlich sind es aber politische Fragen, die gesellschaftlich verhandelt werden müssen: Welchen selbstbestimmten finanziellen Spielraum erachten wir als richtig und nötig für ein «würdiges Alter»? Welche Gruppen und Lebenslagen müssen daher unterstützt werden? Welche Massnahmen sind dafür geeignet?
Welche Massnahmen wären aus wissenschaftlicher Sicht geeignet, um Altersarmut wirksam zu bekämpfen?
Es ist kaum bestritten, dass es für Personen nur mit einer AHV-Mindestrente sehr schwer ist, den Alltag zu finanzieren. Viele von ihnen möchten trotzdem keine Ergänzungsleistungen beantragen, zum Teil aus Unwissen, zum Teil aus Scham. Eine deutliche Erhöhung der Mindestrente würde dieser Gruppe direkt helfen. Das halte ich aber für politisch schwierig durchzusetzen. Die Schweizer Sozialpolitik ist von Volksabstimmungen geprägt. Um eine Änderung durchzusetzen, muss eine Vorlage in der Regel Vorteile für einen breiten Teil der Stimmberechtigten bringen. Dafür ist diese Gruppe aber zu klein.
Die Studie «Ungleichheit im Alter»
Die von Nora Meuli und Carlo Knöpfel 2021 publizierte Studie stellt die älteren Menschen und ihre finanzielle Situation ins Zentrum: Wie hoch sind die Einkommen und Vermögen im Alter? Die Untersuchung zeigt grosse Unterschiede im Alter auf: Viele ältere Menschen sind von Altersarmut betroffen, während andere über sehr viel Vermögen verfügen.
Die Studie ist kostenlos Open Access verfügbar