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Logopädie: Kleiner Beruf leistet Grosses

Institutsleiter Jan Weisser über Entwicklungen und Herausforderungen im Berufsbild Logopädie.

Logopädie ist ein «kleiner Beruf». Nur 0,1 Prozent der in der Schweiz Erwerbstätigen sind Logopäd*innen. Ein kleiner Beruf, der aber Grosses leistet. Logopäd*innen helfen Kindern beim Spracherwerb und älteren Menschen, ihre Sprache wiederzufinden. Und sie tun noch viel mehr. Aber vor allem: Logopäd*innen würden gern noch mehr tun, wenn es denn mehr von ihnen gäbe. Es herrscht jedoch Fachkräftemangel in diesem kleinen Beruf. Die Pädagogische Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) unternimmt nun etwas dagegen. Ein Gespräch mit Prof. Dr. Jan Weisser, Leiter Institut Spezielle Pädagogik und Psychologie (ISP).

Das Gespräch wurde von der Beratungsfirma BSS Volkswirtschaftliche Beratung aus Basel geführt und erstmals publiziert im Fachkräfteindex 2022 (siehe unten für mehr Details). Diese Fassung verwendet im Gegensatz zum Original-Artikel (dort weiblich und männlich alternierend) genderneutrale Formulierungen.

Wo treffe ich Logopäd*innen bei der Arbeit?
Jan Weisser: In Schulen, im Frühbereich, bei den Logopädischen Diensten und in Kliniken, in der Akutklinik wie in der Reha, aber auch in der Geriatrie. Die meisten Logopäd*innen arbeiten jedoch an Schulen.

Was machen Logopäd*innen genau?
Logopäd*innen sind Fachpersonen für Sprache und Kommunikation. Sie machen alles, was mit Sprache und mit Barrieren im Bereich der Sprache zu tun hat.

Wen behandeln Logopäd*innen?
Logopäd*innen arbeiten mit Menschen aller Altersgruppen, von der Geburt bis zum 99. Lebensjahr. Logopäd*innen kommen dann, wenn es ein Problem gibt, wenn zum Beispiel Lehrpersonen merken, dass eine Schülerin ein Problem beim Sprechen hat oder ihr Leseverständnis nicht gut entwickelt ist. Logopäd*innen arbeiten auch mit Menschen mit Mehrfachbehinderung und mit älteren Menschen.

Sie sagen: Logopäd*innen sind Fachpersonen für Sprache und Kommunikation. Das heisst: Es geht in der Logopädie nicht nur um die korrekte Aussprache?
Das Artikulieren ist nur ein kleiner Teil, Logopädie ist aber weiter gefasst. Es geht auch um die Grammatik oder die Wortspeicherung. Und um Sprachverständnis. Das wirkt sich auf das ganze Lernen aus, etwa beim Verständnis von formalen Vorgängen. So sind mathematische und sprachliche Grundkompetenzen eng miteinander verknüpft. Dyskalkulie, also Rechenstörung, ist ein Thema, dem sich Logopäd*innen annehmen.

Weiter beschäftigt sich Logopädie mit dem Erwerb von Lese- und Schreibkompetenz. Bei der Motorik schliesslich geht es nicht nur um die Aussprache, sondern auch um die Stimme und das Schlucken. So arbeiten Logopäd*innen im Bereich myofunktioneller Störungen: Logopäd*innen helfen, dass die Muskeln im Gesicht und im Mund richtig funktionieren. Zudem arbeiten Logopäd*innen in der Prävention, zum Beispiel in der Ausbildung von Spielgruppenleitungspersonen. Diese müssen lernen, wie man Hürden in kommunikativen Situationen bemerkt und wie Kinder bei der mehrsprachigen Sprachentwicklung unterstützt werden können.

Visuel_BLOG_orthophonie.jpgSie sprachen von Dyskalkulie. Mathematik macht uns Ökonom*innen ja besondere Freude. Verstehe ich Sie richtig, dass eine Rechenschwäche von einer logopädischen Fachperson behandelt werden kann? Weil ein Kind mit Dyskalkulie zum Beispiel einfach nicht richtig versteht, was «1 plus 1» bedeutet?
Richtig, Dyskalkulie kann mit Sprache zu tun haben, mit Sprachverständnis. Es spielen aber auch Wahrnehmungsleistungen und weitere Aspekte eine Rolle.

Was fasziniert Sie, Herr Weisser, an der Logopädie?
Ich habe die Logopädie durch die Leitung des Instituts kennengelernt. In meiner Funktion bin ich zum Beispiel dabei, wenn die Curricula ausgearbeitet werden. Spannend finde ich das Zusammenspiel von Sprache und Körper, zum Beispiel bei den Themen Stimme und Sprechen. Aber auch verstecktere Themen wie die Therapie nach einem Schlaganfall, wenn Leute ein Wort nicht mehr finden. Hirnfunktion und Sprache sind eng miteinander verknüpft. In der Ausbildung ist vieles wichtig. Man muss etwas lernen über Neurologie und Linguistik und gleichzeitig über Didaktik und Förderung. Ich finde es immer wieder faszinierend, den Expert*innen da zuzuhören.

Wie motivieren Sie junge Leute, den Beruf der Logopädie zu ergreifen?
Gerade heute hatten wir wieder einen Studieninformationsanlass (mehr zu den Informationsanlässen). Da zeigen wir auf, dass es für das Studium der Logopädie Interesse an Kommunikation in allen Situationen braucht. Und dass man direkt mit Menschen arbeitet, sie direkt unterstützt.

«In der Logopädie geht es aber immer um Menschen, die ein Hindernis überwinden wollen. Da braucht es das Gegenüber.»

Prof. Dr. Jan Weisser

Wie zeigen sich die Erfolge der Behandlung durch Logopäd*innen?
Ein Erfolg ist, wenn ein Ziel erreicht wird, wie zum Beispiel eine unauffällige Aussprache zu haben oder eine Schwierigkeit beim Lesen zu überwinden. Ziele sind aber immer auch grösser gesetzt. Es kann gelingen, eine Schwierigkeit zu überwinden oder auch trotz der Schwierigkeit teilhaben zu können, zum Beispiel wenn ich mit Stottern umgehen kann und trotz Stotterns kommuniziere.

Wie hat sich der Beruf in den letzten Jahren entwickelt? Was hat sich geändert?
Besonders verändert haben sich die Rahmenbedingungen. Mit dem Nationalen Finanzausgleich, der im Jahr 2008 in Kraft getreten ist, ist der ganze Bereich der Sonderschulen inklusive Logopädie in die Kompetenz der Kantone übergegangen. Logopäd*innen sind jetzt viel näher an den Schulen beziehungsweise dort integriert. Früher gab es zumeist separate Logopädische Dienste, heute sind Logopäd*innen Teil multidisziplinärer Teams. Damit ist ihre Arbeit auch viel stärker am Bedarf der Kinder und ihres Lernens im Schulkontext orientiert.

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Sind Automatisierung, Digitalisierung oder remote Tätigkeit bei Ihnen ein Thema?
Es gibt digitale Therapieprogramme inklusive Einsatz von Tablets. Aber der*die Therapeut*in bleibt wichtig, die personale Begegnung. Kinder, die zum Beispiel sehr gern Mathematik haben, lernen gern und selbstständig mit einem Computerprogramm. In der Logopädie geht es aber immer um Menschen, die ein Hindernis überwinden wollen. Da braucht es das Gegenüber. Remote arbeiten Logopäd*innen eher weniger, höchstens bei der Behandlung von Erwachsenen. Während der Pandemie gab es vermehrt Beratung und Unterstützung am Laptop.

Das heisst: Der Beruf kann kaum automatisiert oder ins Ausland verlagert werden?
Nein auf keinen Fall, es braucht die therapierende Rolle, die persönliche Begegnung.

Auch Logopädie ist von Fachkräftemangel betroffen, wie eine BSS-Studie aufzeigt. Was sind die Konsequenzen?
Wir haben einen eklatanten Mangel. Schulen können Stellen nicht mehr besetzen und schreiben schon gar nicht mehr aus. Bei den Schüler*innen, die eine Therapie benötigen, gibt es lange Wartelisten. Oder Priorisierung, das heisst, es können nur noch Schüler*innen mit grösseren Problemen behandelt werden – aber was ist ein grösseres, was ein kleineres Problem?

Welche Gründe sehen Sie für den Fachkräftemangel im Bereich Logopädie?
Steigende Schüler*innenzahlen, starke Jahrgänge und gleichzeitig die zunehmende Zahl von Pensionierungen. Die Situation ist insgesamt ähnlich wie im Lehrberuf. Und es gibt heute mehr Bedarf. Dadurch, dass die Logopädie heute in der Schule integriert ist, braucht es ein ausreichendes logopädisches Angebot vor Ort. Zudem wird heute insgesamt mehr wahrgenommen, dass Menschen ein Recht auf Teilhabe haben, was wiederum in manchen Fällen eine logopädische Behandlung bedingt.

Logopädie studieren an der PH FHNW

Nächster Studiumsbeginn: September 2023

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Der Frauenanteil liegt im Beruf der Logopädie bei knapp 100 Prozent. Wieso ist das so?
Ja, auch im Studium sind es gleichbleibend wenig Männer, null bis zehn Prozent pro Jahrgang. Der Beruf kommt klassisch aus dem «Care-Segment», also aus dem Sich-Sorgen um andere. Die Zweiersettings der Therapie, überhaupt das therapeutische Profil des Berufs, führen noch immer zu geschlechterungleichen Effekten in der Berufswahl. Dabei spielt auch die Perspektive, sehr gut Teilzeit arbeiten zu können, eine Rolle. Und die Schwerpunktlegung auf Sprache trägt vielleicht ebenfalls zur Geschlechterungleichheit in der Logopädie als Beruf bei. Wir thematisieren die Geschlechterdifferenz im Studium und unterstützen ein vielfältiges Berufsbild.

Sie haben Massnahmen zur vermehrten Ausbildung von Logopäd*innen ergriffen. Welche?
Wir haben jetzt das «Go» seitens der FHNW und der Trägerkantone bekommen, dass das Logopädiestudium jährlich angefangen werden kann, nachdem zuvor der Studienbeginn nur alle zwei Jahre möglich war. Wir konnten auch die Werbung für unser Studium intensivieren. Wir haben Informationen an Berufsberatungen, Gymnasien etc. verstärkt und die Dauer des Zulassungspraktikums dem Schweizer Durchschnitt angeglichen. Und wir unternehmen erste Schritte, das Studium Teilzeit anbieten zu können. Das geht jetzt auch viel besser, wegen des jährlichen Studienbeginns. Bei unserem früheren Modell mit dem Studienbeginn alle zwei Jahre war ein Teilzeitstudium aus organisatorischen Gründen kaum machbar. Und schliesslich fördern wir den Quereinstieg in den Beruf.

Welchen Beitrag hat die BSS-Studie zu den oben aufgeführten Entwicklungen geliefert?
Die Studie war sehr wichtig für uns. Wichtig war insbesondere, dass mit empirisch robusten Methoden auch in unserem «kleinen» Berufsfeld valide und klare Ergebnisse erarbeitet werden konnten. Wir wussten zwar selbst schon länger, dass wir zu wenig Logopäd*innen haben, aber wir hatten «nur» Erfahrungen und Berichte dazu. Die Studie hat hier Klarheit geschaffen. Dabei wurden auch Kontextelemente schön dokumentiert. Insgesamt war die Studie ein wichtiges Element für die Argumentation im Fachhochschulrat und bei den Trägerkantonen.

Auf Basis des Berichts konnte diskutiert werden; schliesslich geht es bei der Finanzierung des Studienangebots um öffentliche Gelder. Dabei ist zu sagen: In allen Trägerkantonen gab es auch politische Vorstösse bezüglich des Fachkräftemangels im Bereich der Logopädie. Die Studie hat einen Moment der Objektivierung in die Diskussion gebracht.


Die Beratungsfirma BSS Volkswirtschaftliche Beratung führt jährlich eine Situationsanalyse zur Fachkräftesituation durch. Mittels des Fachkräfteindex können Entwicklungen über Jahre, Regionen und Branchen verglichen werden.

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