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Auslegung von Mittelspannungskabeln – einmal anders

20. Juni 2024

Im Rahmen einer Bachelorarbeit wurde die Auslegung von Mittelspannungskabeln in Umrichter-systemen mit Hilfe einer eigens entwickelten MATLAB-Standalone-App vereinheitlicht und vereinfacht.

von Roland Frunz

Roland FrunzRoland FrunzRoland Frunz startete seine berufliche Laufbahn mit einer Lehre als Automatiker am Paul Scherrer Institut in Villigen. Zwei Jahre nach dem Lehrabschluss begann er 2019 ein berufsbegleitendes Studium in Elektro- und Informationstechnik an der Fachhochschule Nordwestschweiz. Parallel dazu arbeitete er zu 50 % bei NTI AG Linmot in Spreitenbach in der Reparatur von Linearmotoren und Antrieben. In der Mitte des Studiums wechselte er zur INP AG und war bis Ende des Studiums 2023 als externer Mitarbeiter bei ABB System Drives in Turgi als Converter-Ingenieur für ACS-Mittelspannungsumrichter tätig. Seit 2024 ist er bei ABB im Service beschäftigt und für Inbetriebnahmen und Fehlersuche an ACS-Umrichtern zuständig.

ABB System Drives in Turgi entwickelt, produziert und testet Mittelspannungsumrichter für elektrische Antriebe im Leistungsbereich von einem bis zu ca. 50 MW (Megawatt). Diese Umrichter kommen in verschiedenen Bereichen zum Einsatz, wie zum Beispiel in der Metallverarbeitung, in der Schifffahrt, im Bergbau oder in der Öl- und Gasindustrie. ABB verkauft sie nicht nur als Einzelkomponenten, sondern auch in kompletten Systemen, bestehend aus Transformator, Umrichter und Motoren (siehe Abb. 1). Diese Systeme werden von den Ingenieurinnen und Ingenieuren in Turgi ausgelegt. Aufwändig und von grosser Bedeutung ist die Dimensionierung der Leistungskabel zwischen Transformator und Umrichter sowie zwischen Umrichter und Motor.

Abbildung 1: Beispiel eines Umrichtersystems mit einem Transformator, einem MV-Multidrive- und drei Mittelspannungsmotoren (Bild: ABB)

Spezifische Dimensionierung erforderlich

Da jedes Projekt eigene Anforderungen bzgl. Leistung, Spannung, Überlast und andere kundenspezifische Parameter stellt, müssen die Leistungskabel jedes Mal neu dimensioniert werden. Die richtige Anzahl und der Querschnitt der Kabel sind dabei entscheidend: Zu viele Kabel oder ein zu grosser Querschnitt führen nicht nur zu höheren Material-, sondern auch zu höheren Installationskosten. Ausserdem ist der Platz beim Anschlussfeld am Umrichter oder am Motor begrenzt. Auf der anderen Seite können zu wenige Kabel bzw. ein zu geringer Querschnitt sowohl Kabel als auch deren Isolierung so stark erwärmen, dass die Isolierung thermisch altert, was ihre Isolationsvermögen abnimmt. Ein Kurzschluss, der zum Ausfall des ganzen Systems für Tage bis Wochen führen könnte, ist nicht auszuschliessen. Kurzum, die Dimensionierung ist nicht nur eine Frage der Kosten oder des Platzbedarfs, sondern auch der Zuverlässigkeit und Langlebigkeit des Systems.

Bisher wurde die Dimensionierung entweder manuell oder mit Hilfe verschiedener Excel-Tools durchgeführt. Das Ziel der Arbeit war es daher, eine intuitive und kundenspezifische Applikation zu entwickeln, mit der die Leistungskabel für Umrichtersysteme genau bestimmt werden können. Das heisst, die App soll anhand verschiedener, vorgegebener Eingangswerte und mit Hilfe der Normen IEC 60502-2 und IEC 60287-1-1 projektspezifisch die entsprechende Anzahl an Kabeln und deren Querschnitt ermitteln. Besonderes Augenmerk wurde dabei auf Überlastzyklen gelegt. Darüber hinaus sollte die App benutzerfreundlich bzw. selbsterklärend gestaltet sein, so dass erfahrene Ingenieurinnen leicht umsteigen und unerfahrene Ingenieure sie ohne Einführung nutzen können. Ein weiteres Ziel war es, dass möglichst viele Anwender:innen das Tool einsetzen werden, um so einen möglichst hohen Gesamtnutzen zu erzielen.

Aufwendige Berechnungen

Ein zentrales Problem bei der Umsetzung war, aus den eingegebenen Daten auf die entsprechenden Tabellen und Werte in der IEC-Norm zu schliessen. In der IEC 60502-2 gibt es verschiedenste Tabellen, die nach Leitermaterial, Isolationsmaterial, Verlegeart und weiteren Kabeleigenschaften unterteilt sind. Durch die verschiedenen Eingabedaten ergeben sich unzählige Kombinationen, die alle zu den entsprechenden Tabellen und Daten führen müssen.

Darüber hinaus stellen auch Überlastzyklen ein Problem dar. Denn bei Mittelspannungsumrichtern, insbesondere in der Metallverarbeitung, können grosse Lastsprünge bis zum 2.5-fachen des Nennstroms INenn auftreten. Folglich müssen sowohl die Umrichter als auch die Kabel für diese kurzzeitigen Überlastungen ausgelegt sein, damit sie während der Dauer der Überlast nicht thermisch beschädigt werden. Leider existiert für solche kurzzeitigen Überlasten keine entsprechende IEC-Norm. Deshalb musste eine eigene Lösung entwickelt werden. Abb. 2 stellt einen solchen Überlastzyklus dar.

Abbildung 2: Beispiel eines Überlastzyklus

Dazu wurde ein Modell in MATLAB/Simulink erstellt, um das thermische Verhalten eines Mittelspannungskabels zu analysieren und daraus Erkenntnisse für die App zu gewinnen. Es zeigte sich, dass die mittlere Leitertemperatur bei einer Belastung mit Überlastzyklen – im Vergleich mit einer Belastung ohne Überlastzyklen – signifikant höher ist.

Neu konzipierter Datenflow

Um die tabellarischen Werte aus den Normen in MATLAB zu importieren, müssen diese zunächst in eine Excel-Tabelle kopiert werden. Anschliessend werden die Werte via Excel in MATLAB importiert und dort in einer Tabelle zusammengeführt.

Die Eingabe der Eingangsdaten erfolgt im User Interface, das die verschiedenen Parameter in Tabs gruppiert. Der Benutzer klickt sich Tab für Tab durch und gibt seine projektspezifischen Daten ein. Zur Berechnung des Ergebnisses werden die zuvor importierten Tabellen anhand der Benutzereingaben gefiltert, so dass am Ende nur die relevanten Nennströme und Korrekturfaktoren übrig bleiben. Das Programm liest diese nun aus und setzt sie in die Berechnungen ein.

Abbildung 3: Ablauf der Berechnung

Fehlende Werte

Das Problem der Überlastzyklen ist wie folgt gelöst: Während eines Überlastzyklus kann der Strom bis zu 250 % des Nennstromes ansteigen und bis zu 60 Sekunden andauern. Dies geschieht periodisch alle 600 Sekunden. Es war klar, bis zu welchen Maximalwerten die RMS-Berechnung anwendbar ist und ab wann der Überlaststrom als relevanter Strom zu betrachten ist. Fraglich war jedoch, ob das Kabel während der Überlast nicht zu stark beansprucht wird und dadurch langfristig geschädigt wird. Da es jedoch keine festgelegten Normen für Überlast gibt, musste der RMS-Strom mit Erfahrungswerten von ABB berechnet werden. Abb. 4 zeigt einen Screenshot des Tools mit den berechneten Ergebnissen.

Abbildung 4: Screenshot aus dem Tab «Resultate» am Schluss der Berechnung

Erfolgreicher Start in der Praxis

Die fertig entwickelte App wird bereits erfolgreich eingesetzt. Zum einen bewähren sich die Funktionalitäten zur Auslegung von Mittelspannungskabeln bereits in der Praxis. Zum anderen ist der Benutzer nun in der Lage, die Kabel effizienter und präziser auszulegen, indem er verschiedene Installationen vergleichen und so die entsprechenden Optimierungen vornehmen kann. Zudem wird die Dokumentation automatisch erstellt. Dadurch werden die Werte einheitlicher erfasst und vor allem in kürzerer Zeit erstellt als mit den bisherigen Excel-Tools. Mitte Dezember 2023 wurde die Kabeldimensionierungs-App offiziell den weltweit tätigen System Lead Engineers von ABB System Drives vorgestellt und zur Nutzung freigegeben. Fortan präsentiere ich das Tool und stehe den Ansprechpersonen zur Verfügung.

In naher Zukunft soll das Tool um eine Berechnungsfunktion für Niederspannungskabel erweitert werden. Als Grundlage dienen die erarbeiteten Methoden aus dem Mittelspannungsbereich.

Und zu guter Letzt – sozusagen als Sahnehäubchen – wurde meine Bachelor-Thesis «Power Cables in MV Drive Systems» von Swissmem ausgezeichnet. Die Projektarbeit wurde zusätzlich für den Best Thesis Award 2023 von Swissmem nominiert und vom Verband mit dem 3. Platz ausgezeichnet.

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