Ein Internetradio für Seilbahnseile
Warum sollte jemand ein Seilradio wollen? Gibt es da überhaupt was Interessantes zu hören? Und wie kann das zwei Studierende des Studiengangs Elektro- und Informationstechnik je ein Jahr beschäftigen?
von Prof. Dr. Hanspeter Schmid
Bis 2005 arbeitete Hanspeter Schmid als Analog-IC-Designer bei Bernafon AG, Schweiz, wo er Teil eines Design-Teams war, das eine neue IC-Plattform für Hörgeräte entwickelte. Er kam 2005 als wissenschaftlicher Mitarbeiter an das Institut für Mikroelektronik (das ins heutige Institut für Sensorik und Elektronik aufgenommen wurde) der FHNW und wurde im Februar 2012 zum ordentlichen Professor ernannt. Er ist auch nebenamtlicher Dozent an der ETH Zürich (Analoge Signalverarbeitung und Filterung). Seine Forschungsschwerpunkte sind schnelle Low-Power-Schaltungen (hauptsächlich für Sensorelektronik), analoge Signalverarbeitung und Sigma-Delta-Modulation. Im Studiengang Elektro- und Informationstechnik unterrichtet er Signalverarbeitung, Analoge Schaltungstechnik und Analog Circuits for Embedded Systems, und betreut haupsächlich Projektarbeiten mit grossem Analog- oder Signalverarbeitungsanteil. |
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Prof. Dr. des. Michel Roth ist Komponist und Musikforscher an der Hochschule für Musik der FHNW. Er war der Auftraggeber der hier beschriebenen Projektarbeiten, der Entwickler der ursprünglichen Aufnahmemethode für Seilklänge, und die treibende Kraft hinter der Musikinstallation und dem Buch, das im Artikel beschrieben ist. |
Lars Bachmann und Michael Saladin sind Alumni des Studiengangs Elektro- und Informationstechnik. Beide befassten sich neben ihrem Studium auf die eine oder andere Weise mit Musik und brachten neben ihrem Ingenieurkönnen auch ihre Musikalität in ihre Projekte hinein. |
Der Klang der Seile
Wer schon einmal neben einer Seilbahn stand, weiss, dass diese auch dann klingen, wenn die Bahn gar nicht in Betrieb ist. Wind, Wetter und Eigenschwingungen des Seils verursachen zum Teil sehr eindrückliche Klänge. Klar, dass ein Seil bei einem Föhnsturm so richtig heftig auf den Wind reagiert:
Doch auch an einem warmen, sonnigen Tag können die Seile «singen»:
Und selbst bei absoluter Windstille kann es Spannungsentlastungen geben, die längs im Metallseil mit einer Geschwindigkeit von mehreren tausend Kilometern pro Stunde von Berg zu Tal und wieder zurück schiessen und klanglich sehr an das berühmte Synthesizer-Werk Oxygène 2 von Jean-Michel Jarre oder an die alten Star-Wars-Filme erinnern:
Aufzeichnungsgeräte für solche Klänge kann man leider nicht kaufen … aber bauen kann man sie. Und genau das haben zwei Studierende des Studiengangs Elektro- und Informationstechnik der FHNW in ihren Projektarbeiten am Institut für Sensorik und Elektronik im Auftrag des Komponisten und Musikforschers Michel Roth gemacht.
Die Seilsender-Hardware von Lars Bachmann
Das erste Projekt beinhaltete ein umfassendes Embedded System Design und startete im Herbstsemester 2021. Lars Bachmanns Aufgabe war es, einen Sender mit Kontaktmikrophon und einen Internetradioserver aufzubauen, als Open-Hardware-Projekt, so dass alle, die einen Seilsender bauen wollen, dies mit einfach erhältlichen und nicht zu teuren Komponenten tun können.
Schwierig war vor allem die grosse Vielfalt der Anforderungen: Der Seilsender soll mit Netzanschluss oder Solarzellen funktionieren, er soll über WLAN oder über Mobilfunk senden können, er soll widrigen Wetterbedingungen und grossen Temperaturschwankungen trotzen und dabei die Klänge der Seilbahn im hörbaren Bereich und im Infraschallbereich aufzeichnen, übertragen und hörbar machen können. Da solche Sender an schwer zugänglichen Stellen montiert werden, müssen sie auch aus der Ferne kontrollierbar und programmierbar sein. Das Resultat ist ein Raspberry Pi 4 mit massgeschneidertem, wasserdichtem Gehäuse, mit Mobildatenmodul, Kontakmikrophon und Beschleunigungssensor, verbunden mit einer Klangdatenbank und einem Icecast-Internetradioserver.
Anspruchsvoll war hier nicht die technische Lösung an sich, sondern eine technische Lösung so auszuarbeiten, dass sie auch von Amateuren nachgebaut und eingesetzt werden, einfach neue Sender aufnehmen und über lange Zeit robust und nachhaltig funktionieren kann. Entstanden sind in dem Projekt eine ausführliche Bauanleitung (nach der bereits mehrere Seilsender nachgebaut wurden), eine Webseite, auf der alle aktiven Seilsender live hörbar sind, und für alle, die dann immer noch nicht genug gehört haben, ein vom Komponisten Michel Roth gepflegtes Klangarchiv.
Die Audio-Signalverarbeitung von Michael Saladin
Der Seilsender funktionierte sehr gut, aber es gab zwei Probleme: ein technisches und ein menschliches. Das technische Problem war, dass der Infraschallkanal zu viel Rauschen enthielt, und das menschliche Problem, dass es bei der enorm grossen Menge an Daten kaum mehr möglich war, innert nützlicher Frist interessante Klänge zu finden.
Diese Probleme zu lösen, war Aufgabe des zweites Projekts, in dem folglich die Signalverarbeitung im Mittelpunkt stand. Michael Saladin bekam im Herbstsemester 2022 den Auftrag, den Infraschallkanal qualitativ zu verbessern, einen Weg zu finden, den Infraschall hörbar zu machen und die Audioaufnahmen per Machine Learning automatisch als interessant oder uninteressant zu klassieren.
Die Verbesserung des Infraschallkanals geschah noch auf physikalischer Ebene. Das meiste störende Rauschen steuerte der verwendete Vibrationssensor nämlich selber bei, indem er durch elektromagnetische Interferenz auf der Verbindungsleitung die eigenen digitalen Daten störte. Nachdem die Ursache klar war, konnte das Problem mit einer besseren digitalen Datenübertragung durch das Sensorkabel gelöst werden.
Infraschall ist Schall mit Frequenzen unterhalb 20 Hz, für Menschen unhörbar. Er kann einfach hörbar gemacht werden, indem man einen Ausschnitt einer Aufzeichnung 16 mal schneller abspielt. Wenn man das aber dann gleichzeitig mit dem hörbaren Schall abspielen will, muss man das beschleunigte Signal mehrmals wiederholen, sonst ist es viel zu früh fertig. Und darin liegt die Schwierigkeit: der zu wiederholte Abschnitt darf den Rhythmus der Seilschwingungen nicht brechen. Man muss eine ganze Anzahl Rhythmus-Takte ausschneiden und korrekt wiederholen. Deshalb hat Michael Saladin eine automatische Rhythmus-Erkennung (Beat Detection) entwickelt und zur musikalischen Reife gebracht.
Das dritte Thema ist die automatische Klassierung der Audiosignale mit Machine Learning. Die Abbildung 3 zeigt einige Beispiele von Seilbahnklängen:
Die grosse Herausforderung des Machine Learning (ML) ist es, das sehr viele verschiedene Methoden dazu bekannt sind. Ein Hauptmerkmal solcher Methoden ist, ob sie überwachte Klassen erkennen lernen (supervised learning) oder die Klassen selber herausfinden (unsupervised learning). Ersteres kam bei diesem Projekt nicht in Frage, es hätte die Musiker gezwungen, in vielen stundenlangen Aufnahmen die Interessantheit in feiner Zeitauflösung computerlesbar zu markieren, ein enormer Aufwand. Eine weitere Unterscheidung besteht in Methoden, welchen die zu betrachteten Merkmale vorgegeben sind (konventionelles Machine Learning) und solchen, die auch die zu betrachtenden Merkmale indirekt selber bestimmen (Deep Learning). Für Letzteres standen aber viel zu wenig Daten und Rechenzeit zur Verfügung.
Also hat Michael Saladin durch viele Tests eine bestimmte ML-Methode ausgewählt (Gaussian Mixture Models, GMM) und unter anderem mit Hilfe seines Audio-Wissens als besten Merkmalssatz die Mel Frequency Cepstral Coefficients (MFCCs) eruiert, die unter anderem in der Sprach- und Musikerkennung im Einsatz sind. Sein Algorithmus kann nun fast in Echtzeit Seilbahnklänge in elf Klassen einteilen. Die folgenden zwei Audiodateien enthalten zusammengeschnittene Vier-Sekunden-Stücke aus zwei der Klassen, was gut hörbar macht, wie das GMM verschiedene Klänge zusammengruppiert:
Alpenmusikfestival, DJ und Seilbahnbuch
Diese zwei Elektro- und Informationstechnik-Projekte kulminierten im Einsatz der Seilsender in einer mehrtägigen Klanginstallation am internationalen Musikfestival alpentøne 2023, an dem auch der Urner DJ Sandro Bart Liveklänge von den Seilen verwendete. Ausserdem ist zu dem Thema das Buch von Michel Roth Singende Seile im bildfluss Verlag erschienen (das PDF ist in Open Access frei verfügbar).
Die von den zwei Elektro- und Informationstechnik-Studenten entwickelten Seilsender und deren Algorithmen haben sich als äusserst robust und zuverlässig erwiesen. Sie sind einfach zu handhaben, selber baubar und sehr wetterfest. Einzig einen direkten Blitzeinschlag ertragen sie nicht: hören Sie sich die letzen 2:34 Minuten im Leben des Seilsenders Nummer 1 an: bei 0:07 hat er einen ersten Blitz registriert, der dem Seil noch nicht zuviel elektrische Ladung verpasste. Danach hat er (waren das letzte Tränen?) Regentropfen übertragen, die auf sein Kontaktmikrophon klopften. Den Klang des Blitzes, der ihn am Ende tötete, nahm er aber mit ins (elektronische) Grab.
Alle weiteren Seilsender sind aber immer noch aktiv, vor allem Seilsender Nummer 7 ist auf seilsender.ch sehr oft live zu hören, und auch die von Informatik-Studierenden entwickelte Website The Unique Sounds of Alpine Ropeways ist sehr anhöhrenswert.
Weiterführende Links
- Institut für Sensorik und Elektronik der FHNW
- Webseite seilsender.ch
- Webseite The Unique Sounds of Alpine Ropeways
- Open-Hardware-Projekt auf GitLab
- Webseite icecast.org
- Webseite Festival alpentöne
- Bericht über den Seilsender am Festival alpentöne
- Fact Sheet zur Bachelor-Thesis von Lars Bachmann
- Fact Sheet zur Bachelor-Thesis von Michael Saladin
- Buch «Singende Seile» von Michel Roth als PDF
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