«Ihr habt uns getötet, ihr habt unsere Kinder getötet, aber Serbien habt ihr nicht getötet, weil Serbien kann niemand töten.»: Eine Analyse serbischer Gedenkpraxis an die NATO-Bombardierung 1999
Am 24. März 1999 beginnt die NATO mit der militärischen Operation Allied Force gegen die damalige Bundesrepublik Jugoslawien. Was als kurze Intervention geplant war mit dem Ziel, die Bevölkerung gegen den Machthaber Slobodan Milošević zu mobilisieren und somit den Rückzug serbischer Truppen aus Kosovo zu erzwingen, entwickelte sich zu einem 78-tägigen Luftkrieg. Die Bombardierung führte nicht nur zur Eskalation des Kosovokonfliktes, in dessen Folge Hunderttausende ihre Heimat verloren, sie stellt auch die einzige kriegerische Auseinandersetzung auf serbischem Gebiet innerhalb der Jugoslawienkriege dar. Zwischen NATO-Bomben, Kriegsmobilisierung und einem durch Notstandsverordnungen gestärkten Regime bedeutete die Bombardierung eine zutiefst ambivalente Erfahrung für die Bevölkerung Serbiens. 17 Jahre später ist von diesen unterschiedlichen Erfahrungsdimensionen nur wenig im öffentlichen Diskurs zu spüren. Während die gesellschaftliche Aufarbeitung und umfassende juristische Verfolgung der im Kosovokrieg begangenen Kriegsverbrechen bis heute auf sich warten lässt, erlebte das Gedenken an die NATO-Bombardierung seit dem Machtantritt Aleksandar Vučićs eine Renaissance. «Wir haben der Welt 78 Tage lang gezeigt, wie dickköpfig unser kleines Land sein kann und wie tapfer.»1
, erklärt Vučić zum 16. Jahrestag der Bombardierung am 24. März 2015 vor der ausgeleuchteten Ruine des zerstörten ehemaligen Verteidigungsministeriums in Belgrad den anwesenden Gästen und Zuschauern vor den Fernsehern während im Hintergrund die Sirenen erklingen. Seine Rede bei der Gedenkfeier in Varvarin2
im Jahr darauf schlägt einen ähnlichen Ton an: «17 Jahre später wollen wir stolz zu allen sagen – mit trauriger Stimme, aber klar und deutlich – ihr habt uns getötet, ihr habt unsere Kinder getötet, aber Serbien habt ihr nicht getötet, weil Serbien kann niemand töten.»3
Mit solchen Worten knüpfte er nicht zuletzt an die heroisch-patriotische Rhetorik der Milošević-Zeit an, in der die Prägung eines Geschichtsbildes des Kosovokrieges als «NATO-Agression» («NATO agresija») ihren Anfang fand. Das Deutungsmuster einer «Nation im Belagerungszustand»4
wurde in der von serbischer Seite initiierten «Widerstandsbewegung»5
während der Bombardierung diskursiv und visuell auf die Spitze getrieben. Auch heute noch betont die offizielle Gedenkpolitik den eigenen Opferstatus, während die zeitgleich verübten Verbrechen nach wie vor weitestgehend unaufgearbeitet sind und öffentlich verschwiegen werden. Zeitgleich bieten nicht-staatliche Gedenkinitiativen eine alternative Lesart im Umgang mit der NATO-Bombardierung an, die jedoch wenig öffentliche Rezeption erfährt.
Anhand von Mitschriften und Berichten in serbischen Print- und Onlinemedien und unter Hinzunahme visuellen Materials (Fotos und Videos) nimmt mein Beitrag den erinnerungskulturellen Umgang der serbischen Gesellschaft mit der Bombardierung von 2000 bis heute in den Blick und untersucht dabei folgende Fragen: Welche Kontinuitäten lassen sich in den vergangenen 17 Jahren in Bezug auf die (performative) Praxis und Rhetorik der Gedenkveranstaltungen aufzeigen? Wo finden sich Brüche? Welche alternativen Gedenkpraktiken haben sich herausgebildet und in welchem Spannungsfeld stehen diese zu dem «hegemonialen»6
, staatlichen Erinnerungsdiskurs?
NATO-Bombardierung 1999, Kosovokrieg, serbische Gesellschaft, Erinnerungskultur
Elisa Satjukow ist seit 2015 wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin am Lehrstuhl für Ost- und Südosteuropäische Geschichte der Universität Leipzig und Fellow im Programm «Trajectories of Change» der ZEIT-Stiftung.