In der migrationsgeprägten schweizerischen Gesellschaft leben viele Menschen mit Bezügen zur Region des ehemaligen Jugoslawien. Ein Teil der Bevölkerung verbindet eigene biographische Erinnerungen mit den Kriegen der 1990er Jahre. Viele heutige Schülerinnen und Schüler haben familiäre Verbindungen zu Region und Thematik. Bei anderen Bevölkerungsteilen ohne direkten Bezug zu Ex-Jugoslawien rücken Region und Ereignisse vermittelt, beispielsweise medial, ins Bewusstsein. Auch auf diesem Weg entwickeln sich Vorstellungen in Bezug auf die Jugoslawienkriege als Ereigniskomplex, auf die in die Kriege involvierten Kollektive sowie auf Menschen, die aus dieser Region stammen.
An diese pluralen Bedingungen knüpfen sich Herausforderungen für eine gesellschaftliche Auseinandersetzung, im Besonderen für die Geschichtsvermittlung: Zunächst geht es in der Vermittlungspraxis um historische Narrative und geschichtskulturelle Zugänge von Kindern und Jugendlichen mit Wurzeln in den Ländern des ehemaligen Jugoslawien. Diese Kinder und Jugendlichen stehen vor der Herausforderung, im Zusammenwirken von Geschichte(n) und Geschichtskultur(en) der Heimat der Eltern oder Grosseltern einerseits, sowie der Schweiz andererseits, ihre Identität zu konstruieren.
Aufgrund der Einbettung in heterogene Kontexte kann Vermittlung im Zusammenhang mit den Jugoslawienkriegen jedoch keineswegs nur Kinder und Jugendliche mit familiären Bezügen zur Region des ehemaligen Jugoslawien adressieren, sie hat sich vielmehr an die gesamte Gesellschaft zu richten und nimmt deren Geschichten und Geschichtskulturen in den Blick. Mit Blick auf die geschichtsdidaktische Zielgrösse der Ausbildung eines reflektierten Geschichtsbewusstseins geht es auch im Fall von Ex-Jugoslawien darum, vorhandene Erzählungen und angebotene Deutungsmuster einzuordnen und kritisch zu hinterfragen, sie zu de-konstruieren, dabei auch ihre Vielfalt zu erkennen und Hintergründe zu verstehen und schliesslich einen eigenen Standpunkt zu entwickeln.
Gegenstand der Auseinandersetzung können also nicht nur historische Ereigniskomplexe, sondern auch deren geschichtskulturelle Thematisierungen sein. Dass diese vielfältig sein können, ging aus den Beiträgen der vorangegangenen Tagung hervor. Dort wurde deutlich, dass es in den Geschichtskulturen der jugoslawischen Nachfolgestaaten vielfältige Formen des Gedenkens und Erinnerns gibt, dass dabei auf Ebene des offiziellen, staatlichen Gedenkens Fokussierungen auf die eigene Opferrolle bestehen und dass sich multiperspektivische Betrachtungen und Reflexionen über die Verantwortung auch des eigenen Kollektivs demgegenüber eher in nichtstaatlich organisierten Gedenkpraxen manifestieren. Für eine didaktische Behandlung des Themas ergibt sich daraus als zentrale Herausforderung, multiperspektivische Zugänge zu verwirklichen, um Opfer-Täter-Dichotomien aufzubrechen und damit verbundene Stereotypisierungen und Eingrenzungs- sowie Ausgrenzungsmechanismen zu vermeiden.
Auch innerhalb der schweizerischen Gesellschaft finden sich Deutungsmuster, die es im Sinne eines reflektierten Geschichtsbewusstseins zu bearbeiten gilt. In gesellschaftlichen Diskursen über Migrantinnen und Migranten lassen sich vielerlei kollektive, stereotype Zuschreibungen beobachten, die sich ethnischer, kultureller, nationaler oder räumlich orientierter Kategorien bedienen («Jugos» etc.) und die immer auch mit Verkürzungen bzw. Komplexitätsreduktionen, Inklusions- und Exklusionsmechanismen verbunden sind.
Zu bedenken gilt es in diesem Zusammenhang, dass die migrationsgeprägte Beziehung zwischen der Schweiz und der Region des ehemaligen Jugoslawien keineswegs erst seit den Jugoslawienkriegen besteht – auch dies wurde im Rahmen der vorangegangenen Tagung herausgearbeitet. Vielmehr beinhaltet die gemeinsame Geschichte auch eine seit den 1960er Jahren bestehende, wichtige Handelspartnerschaft zwischen der Schweiz und Jugoslawien und eine Zeit der Migration jugoslawienstämmiger Arbeitskräfte in die Schweiz. Infolge der Jugoslawienkriege kam es jedoch zu einer entscheidenden Wendung in der Wahrnehmung der aus Ex-Jugoslawien stammenden Personen und es setzte vor allem in dieser Phase eine Stigmatisierung ein.
Auch hier kann und soll Geschichtsvermittlung einen Beitrag dazu
leisten, stereotype Zuschreibungen und Stigmatisierungen von Kindern und
Jugendlichen in der schweizerischen Gesellschaft zu erkennen und zu
überwinden, um auf dieser Grundlage geteilte wie auch unterschiedliche
historische Narrative und Orientierungen von in der Schweiz lebenden
Menschen mit oder ohne direkten Bezug zu Ex-Jugoslawien gemeinsam
herauszuarbeiten, auszuhandeln und zu reflektieren.
Aktuelle
Herausforderungen für eine didaktische Auseinandersetzung mit den
Jugoslawienkriegen liegen zusammenfassend beispielsweise in folgenden
Bereichen: