1950

1950 – Neue Methoden aus der neuen Welt

9. August 2021

Ab den 1950er-Jahren reisten zahlreiche Schweizer Sozialarbeiterinnen in die USA, um hierzulande noch weitgehend unbekannte Methoden wie die Social Casework Methode oder später Community Work und Group Work kennenzulernen. Das Gelernte nahmen sie in die Schweiz mit und liessen es in Unterricht und politische Debatten einfliessen, was nicht überall gut ankam.

Und plötzlich hatten angelsächsische Begriffe den Weg in den Unterricht gefunden. Die Lektionen hiessen nun «units» und es wurde über den «generic approach» gesprochen. So beschreibt Charlotte Friedli, in den 1970er-Jahren Studentin an der Schule für Sozialarbeit Solothurn, den Moment, als die «Frau aus Amerika» den Unterricht übernahm. Die «Frau aus Amerika» war Meta Mannhart, langjährige Leiterin des Sozialpädagogischen Seminars des Seraphischen Liebeswerks Solothurn, die gerade aus den USA zurückgekehrt war, wo sie einen Master of Socialwork abgeschlossen hatte – und nun eine neue, eine ganzheitliche Sicht auf die Soziale Arbeit in die Schulstube brachte.

Meta Mannhart war eine von zahlreichen Schweizer Sozialarbeiterinnen, die ab Anfang der 1950er-Jahre das Stipendienprogramm der Vereinten Nationen nutzten und nach Nordamerika reisten, um sich im Bereich der Sozialen Arbeit weiterzubilden. Und dort lernten sie neue Methoden kennen, die hierzulande noch kaum bekannt waren. So zum Beispiel die Social Casework Methode, welche im Gegensatz zur rationellen Armenpflege partnerschaftlich vorging. Die Klient*innen sollten nicht länger bevormundet werden. Vielmehr sollten die Sozialarbeiterinnen mit ihnen zusammenarbeiten und nach Lösungen suchen. Kurz: Es ging um die Demokratisierung der Sozialarbeit.

Ein für die Schweiz noch ungewohnter Ansatz, wie ein Artikel deutlich macht, der im August 1954 in der Neuen Zürcher Zeitung NZZ erschien. In diesem wurde das Buch zur Methode des Case Work «Interviewing, its Principles and Methods» besprochen, das kurz zuvor zu gewissen Teilen auf Deutsch übersetzt worden war. Im Artikel wird erklärt, dass dem «Interviewing» in den USA eine «entscheidende Bedeutung beigemessen» werde.

«Nicht dass in Europa erfahrene Fürsorge ohne Gespräch in dem besonderen Sinn ausgekommen wäre; aber das psychologische Ausfeilen letzter Möglichkeiten, um in die oft verworrenen Seelenzustände des Klienten einzudringen, ist im Zusammenhang mit dem ganzen Casework-Gedanken erst in letzter Zeit als wertvolles Hilfsmittel auf dem Kontinent und damit auch bei uns erkannt worden.»

In der NZZ wird auch gleich eine Textstelle aus dem Buch abgedruckt, welche für die «neue Betrachtungsweise» bezeichnend sei.

«Unbewusste Motive kommen häufiger vor, als wir gewöhnlich annehmen: warum ein Klient gewisse Dinge sagt und andere ungesagt lässt, warum ein Kind mit einem hohen Intelligenzquotienten in der Schule versagt, warum eine Frau, die überschwenglich (sic.) ihre Liebe zu ihrem Gatten beteuert, ihn andauernd herabsetzt, das sind Fragen, deren Beantwortung nicht im intellektuellen, sondern im emotionalen Bereich zu suchen sind.»

Das UNO-Austauschprogramm wurde zu einer regelrechten Institution und gab den Sozialarbeiterinnen die Möglichkeit, in eine ihnen oftmals komplett fremde Welt einzutauchen. Sie fanden Zustände vor, die sie von der Schweiz her so gar nicht kannten. Silvia Staub-Bernasconi, Sozialarbeiterin und Dozentin für Soziale Arbeit und Menschenrechte, bringt ihre Erfahrungen aus den USA zu Beginn der 1960er-Jahre folgendermassen auf den Punkt:

«Ich wurde mit dem grossen Zorn der schwarzen Bevölkerung konfrontiert, der sich nicht länger unterdrücken liess, und mit einer Sozialen Arbeit, die sich aktiv und anwaltschaftlich gegen Armut, Rassismus und Diskriminierung sowie gegen die Tatsache wandte, dass Ghettos und Slums nicht mehr Durchgangs-, sondern Endstationen waren.»

Ihr fiel zudem auf, dass es damals viele Sozialarbeiter*innen gab, die sich politisch engagierten. So traf sie unter anderem auf einen Sozialarbeiter aus San Francisco, der eine Gefangenenbewegung gegründet hatte und für diese bis nach Washington lobbyierte. Ihr Fazit: «Ich erlebte in den USA eine sehr selbstbewusste, wissenschaftsbasierte Soziale Arbeit, die fachpolitisch aktiv war, forschte, publizierte und damit etwas bewirkte.»

Neben der Social Casework Methode fanden im Laufe der Zeit auch Social Groupwork und Community Work den Weg in die Schweiz und somit auch in den Unterricht. Meta Mannhart brachte den eingangs erwähnten „generic approach“ an das Sozialpädagogische Seminar in Solothurn.«Sie hat in den USA ein umfassendes Verständnis von Sozialer Arbeit kennen gelernt und in diesem Sinne unterrichtet», erinnert sich Charlotte Friedli. Die Soziale Einzelfallhilfe war zwar immer noch zentral, wurde jedoch mit neuen Schwerpunkten, wie Soziale Gruppenarbeit und Gemeinwesenarbeit ergänzt. «Durch die Integration der verschiedenen Richtungen und Methodenverständnisse hat Meta Mannhart Pionierarbeit geleistet.»  

Doch Pionierarbeit war noch nie einfach: Die Ideen, die die Sozialarbeiterinnen aus den USA in die Schweiz mitnahmen und in Unterricht und politische Debatten einfliessen liessen, kamen nicht bei allen gut an. Frauen, die einen Expertinnenstatus beanspruchten und diesen mit der Gründung der Schulen erfolgreich demonstrierten, trafen in den Fürsorgestrukturen auf männlich dominierte Kommissionen und männliche Führungsansprüche, die ihre Kollegen nicht aufgeben wollten. Oder wie es Meta Mannhart einmal ausdrückte: «Es war eine Zeit, in der es Leute wie ich, die gerade aus den USA zurückgekommen waren, nicht so ‚gäbig‘ hatten.»

Informationen aus:

  • Neue Zürcher Zeitung vom 5. August 1954
  • Gespräch mit Charlotte Friedli, Dozentin für Kommunikation und Interaktion, Projektleiterin MAS Psychosoziales Management, 19. Mai 2021
  • «Wir haben die Soziale Arbeit geprägt – Zeitzeuginnen und Zeitzeugen erzählen von ihrem Wirken seit 1950», herausgegeben von AvenirSocial 2011
  • «Umbruch im Märchenwald – Mata Mannhart und die Schule für Sozialarbeit Solothurn»; ein Film von Christina Besmer und André Kilchenmann, Hochschule für Soziale Arbeit FHNW, 2010
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