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Streckenbezogene Fussverkehrsmengen

Michael van Eggermond | 31. März 2022

Ausgangslage

Zur Abschätzung von Personenverkehrsströmen im MIV und ÖV haben sich seit ca 1970 in der Praxis zonen-basierte multimodale Verkehrsmodelle etabliert. Aus methodischen Gründen und wegen fehlender Zähldaten kann der Fussverkehr mit solchen Modellen aber nicht angemessen berücksichtigt werden. Als Alternative zur aufwändigen Entwicklung multimodaler Verkehrsmodelle, bieten Graph-basierte, räumlichen Analysemethoden das Potenzial streckenbezogenen Fussverkehrsmengen abzuschätzen.

Die Verfügbarkeit von verlässlichen Abschätzungen zu streckenbezogenen Fussverkehrsmengen würde es erlauben, dass bei der Gesamtverkehrsplanung bereits in frühen Planungsphasen qualitative Aussagen zu Fussverkehrmengen zur Verfügung stünden. Ebenso würde eine quantitativen Abschätzung von streckenbezogenen Fussverkehrsmengen eine systematische Priorisierung bei der Behebung von Schwachstellen ermöglichen. Bei Arealplanungen könnte die Wechselwirkung zwischen Städtebau, Fussverkehr und Aufenthaltsnutzung untersucht und die Wirkung von gestalterischen Massnahmen evaluiert werden. In einem iterativen Planungsprozess könnten so Pläne evidenzbasiert beurteilt und verbessert werden.

Daher gibt es zur Zeit in der Forschung verschiedene Bestrebungen Modelle zur Abschätzung von streckenbezogenen Fussverkehrsmengen zu entwickeln. In der Schweiz untersucht zum Beispiel ein Team von Metron im Rahmen eines vom ASTRA finanzierten Projekts verschiedene Methoden um flächendeckend in Schweizer Städten und Agglomerationen Fussverkehrsmengen abzuschätzen.

Lösungsansätze

Es existieren verschiedene Methoden, um abzuschätzen, wie viele Fussgänger einen Fussweg benutzen. Space Syntax Ansätze basieren primär auf Analysen zur Topologie des Fussverkehrsnetzes. Darauf aufbauende Weiterentwicklungen beziehen auch Erreichbarkeiten benutzen (Proximity / Accessibility ) ein und ermöglichen es so auch Unterschiede bei Landnutzung und Nutzungsdichte einzubeziehen.

In verschiedenen angewandten Forschungsprojekten haben wird mit diesen Ansätze gearbeitet und dabei einige Erfahrungen gemacht und Überlegungen für den Weiterentwicklung angestellt, die wir in diesem Blogpost in aller Kürze darstellen.

Space Syntax

In reinen Space Syntax Anwendungen werden aufgrund der Topologie des Fussverkehrsnetzes verschiedene Indikatoren ermittelt, die nachgewiesenermassen mit beobachteten Fussverkehrsmengen korrelieren. Die zwei bekannteste Indikatoren sind Betweenness und Integration.

Betweenness ist ein Mass, das für jede Verbindung in einem Netz, die Anzahl der kürzesten Wege von überall nach überall zusammenzählt (Freeman, 1977): Diese Definition stützt sich ausschliesslich auf die Merkmale des Netzes und die Definition der Entfernung zur Bestimmung des den kürzesten Weg. Space Syntax Ansätze basieren auf der Einsicht, dass Personen versuchen die Anzahl Richtungswechsel zu minimieren. Solche Richtungswechsel werden im Modell als Winkeländerungen zwischen zwei aufeinanderfolgenden Strecken gemessen als angular distance bezeichnet und negativ bewertet. Entlang von Routen mit wenig Richtungswechsel ergeben sich somit eine höhere Betweenness was auf eine höhere Fussverkehrsmenge schliessen lässt.

Betweenness im Stadtzentrum Zürich auf Basis von Openstreetmap, berechnet mit sDNA.

Integration berechnet wieviel Strecken innerhalb einer gewissen Distanz unter Berücksichtigung der Winkeländerung erreichbar sind. Somit ist das Messkonzept vergleichbar mit dem in der Verkehrsplanung bekannten Konzept der Erreichbarkeit. Es werden aber weder Zielgewichte noch eine über die Distanz abnehmende Gewichtungsfunktion berücksichtigt. Entlang Strecken mit einem höhen Integration wird mehr Fussverkehr erwartet, aber auch mehr Aktivität (Aufenthaltsnutzung). Daher sind Strecken mit einer hohen Erreichbarkeit auch besonders geeignet für die Anordnung von Ladengeschäften.

Integration im Stadtraum Zürich, ausgedruckt mit Mean Angular Distance. Entlang Strecken mit einem tiefen Mean Angular Distance (rot) wird mehr Fussverkehr erwartet.

Neuere Ansätze

Neuere Ansätze wie basieren auf den Grundprinzipien von Space Syntax, erlauben es aber neben der Netzwerktopologie auch Informationen zur Landnutzung und weiteren Quellen- und Senken des Fussverkehrs wie z.B. ÖV-Haltestellen zu berücksichtigen. Zudem werden teilweise auch distanzabhängige Gewichtungsfunktionen eingesetzt, um auch gemäss des ersten Gesetzes der Geographie abzubilden, dass zwar alles mit allem zusammenhängt, aber nähere Sachen stärker, als weiter entfernte. Diese Verfahren erlauben es sogenannte direct demand Modelle zu formulieren und mit empirisch erhobenen Daten zu kalibrieren.

Software Werkzeuge

Um die verschiedenen Indikatoren zu berechnen und deren Ergebnisse grafisch darstellen stehen verschiedene Software-Werkzeug zur Verfügung. Die “Space Syntax Toolkit” ist eine Open Source Software und erlaubt als QGIS plugin eine nutzerfreundliche Einbindung von Space Syntax Analysen in einer GIS-Umgebung.

Die am MIT vom City Form Lab entwickelte Urban Network Analysis Toolbox ist für Rhino3D verfügbar. Das Werkzeug zeigt drei wichtige Merkmale auf, die es für die räumliche Analyse von städtischen Strassennetzen besonders geeignet macht: es ist möglich entweder metrische oder Winkeländerungsdistanzen zu berechnen, berücksichtigt neben Strecken auch Knoten (z.B. einzelne Hauseingänge entlang einer Strecke) und ermöglicht es Knoten unterschiedliche zu Gewichten, z.B. aufgrund der darüber zugänglichen Geschossfläche.

Spatial Design Network Analysis, kurz sDNA , ist ein von Hochschulen, öffentlichen Verwaltungen und er Privatwirtschaft getragenes Projekt as an der Cardiff School of Planning & Geography und dem Sustainable Places Research Institute entstanden ist. Teil des Projekts ist das Angebot und die Weiterentwicklung der sDNA Software, dem weltweit führenden Werkzeug für die flexibel parametrisierbare Analyse von räumlichen 2D and 3D Netzwerken für GIS, CAD, Command Line und Python unter Verwendung von standardisierten Netzwerkdarstellungen.

Anwendungsbeispiele

Abschätzung streckenbezogener Fussverkehrsmengen für eine städtebaulichen Entwicklungsplan

Die Christoph Merian Stiftung hat das Architektur- und Städtebaubüro Herzog und de Meuron beauftragt zusammen mit verschiedenen FachplanerInnen den bestehenden Masterplan für das Dreispitz Areal weiter konkretisieren und einen «Plan Guide» zu erarbeiten. Als Teil des Fachplanungsteams Mobilität und Verkehr haben wir zusammen mit der Verkehrsplanungsabteilung von Rapp die verkehrliche Wirkung verschiedener städtebaulichen Designszenarios untersucht und dazu passenden Mobilitätslösungen erarbeitet.

Basierend auf einer von uns aufgebauten räumlichen PostgreSQL/PostGIS Datenbank haben wir mit der Software sDNA die Interaktion zwischen Gebäudenutzungen, dem Fussverkehrsaufkommen von und zu ÖV-Haltstellen und dem Fussverkehrsnetzes untersucht und darauf basierend streckenbezogene Fussverkehrsmengen berechnet.

Fusswegnetz und streckenbezogene Fussverkehrsmengen (grün) in und um das Dreispitzareal als Ergebnis einer interativen, indikatoren-gestützten Entwicklung eines städtebaulichen Plans. Die Kreise stellen das von Gebäuden (grau) und ÖV-Haltestellen (pink) ausgehende Fussverkehrspotenzial dar.

Im Zusammenspiel mit den StädtebauerInnen von Herzog und de Meuron haben wir verschiedene Topologie des Fussverkehrsnetzes in und um das Areal analysiert und basierend auf den Ergebnissen iterativ weiterentwickelt. Dadurch wurde klar, wo es zusätzliche Öffnungen im und an das Areal benötigt und welche Grundstücke zu Gunsten von Fussverkehrsverbindungen frei bleiben sollen.

Pilotstudie zur Abschätzung von streckenbezogener Fussverkehrsmengen aufgrund von frei verfügbaren räumlichen Daten

In einer internen Pilotstudie haben wir untersucht, ob und wie aufgrund von in der Schweiz frei verfügbaren räumlichen Daten streckenbezogene Fussverkehrsmengen flächendeckend abgeschätzt werden können. Dazu haben wir die auf Ebene Hektarraster vorliegenden Datensätze zur räumlichen Verteilung der Wohnbevölkerung und Arbeitsplätze in verschiedenen Formen in unserer PostgreSQL/PostGIS Umgebung aufbereitet. Mit sDNA haben wir für verschiedene Anwendungsfälle streckenbezogene Fussverkehrsmengen quantifiziert und mit QGIS dargestellt.

Als ein Anwendungsbeispiel zeigt die untenstehende Abbildung die aufgrund des Indikators Betweenness zwischen Schulgebäuden (rot) und der Anzahl Schulkinder (Graustufen) zu erwartenden Fussverkehrsmengen. Darauf basierend liessen sich zum Beispiel Massnahmen zur Erhöhung der Schulwegsicherheit systematisch priorisieren.

Pilotversuch zur Abschätzung streckenbezogener Fussverkehrsmengen in Raum Zürich Schwamendingen basierend auf Fussverkehrsnetz der Stadt Zürich: Betweenness (Strecken in abge-stuftem Rot) zwischen Schulen und Einwohnenden aufgrund von Schulstandorten (rote Gebäude) und Anzahl Personen ab 5 bis zu 19 Jahren (BFS STATPOP, innerhalb Hektarraster auf Gebäude verteilt (Graustufen)).

Forschungsprojekt in Singapur zur Modellierung von streckenbezogene Fussverkehrsmengen in stark verdichteten Stadtgebieten mit mehreren Gebäudeebenen.

Am Future Cities Laboratory sind Michael van Eggermond und Alex Erath zusammen mit anderen Forschenden des Singapore ETH Centres, NUS und SUTD im Rahmen des Forschungsprojekt «Pedestrian Crowding and Comfort in High Density Areas» der Frage nachgegangen, wie streckenbezogene Fussverkehrsmengen in stark verdichteten Stadtgebieten mit mehreren Gebäudeebenen modelliert werden können. Basierend auf eigenen Erhebungen von Fussverkehrsmengen in vier verschiedenen Stadtteilen wurde ein statistisches Modell entwickelt, um den Zusammenhang zwischen verschiedenen Indikatoren und den beobachteten Fussverkehrsmengen zu erklären.

Das Modell basiert primär auf verschiedenen Betweenness Indikatoren, die für verschiedene Quelle-Ziel Beziehungen (Bahnhof – Einkaufsfläche, Bahnhof – Arbeitsplätze, Einkaufsfläche – Einkaufsfläche, Bahnhof – Einwohner, usw) berechnet wurden.

Die Anwendung des statischen Modells ermöglicht die evidenzbasierten, flächendeckende Abschätzung von Fussverkehrsmengen in Multi-Level Netzwerken, wie sie zum Beispiel in und um Bahnhöfe und in Einkaufszentren gängig sind. Dazu wird zunächst mit GIS und CAD ein 3D Netzwerk erstellt und mit Daten von EIn- und Aussteigern an ÖV-Haltestellen sowie Angaben zur Geschossfläche einzelner Ladengeschäfte sowie Angaben zur Wohnbevölkerung und der Geschossfläche der Arbeitsplätze pro Gebäude verknüpft. Zunächst sind Fussgänger gezahlt entlang mehr als 200 Strecken. Darauf basierend wird mit ins sDNA verfügbaren Algorithmen und den gemäss dem statistischen Modell abgeleiteten Parametern die streckenbezogenen Fussverkehrsmengen berechnet. Dieses Datenpipeline wurde automatisiert, in Zusammenarbeit mit PlanerInnen der Urban Redevelopment Authority als Planungstool weiterentwickelt und schliesslich für Praxisanwendungen bereitgestellt.

Fussverkehrsmengen in Orchard Road in Singapur. Unterliegend an den Daten ist ein Regressionsmodell (Lasso Regression) mit mehr als 24 Variablen. Auf absoluten Zahlen ist in dieser Abbildung verzichtet.

Die Ergebnisse dieses Forschungsprojekts stellen wir Ende Juni 2022 als Paper am 13th International Space Syntax Symposium in Bergen (No) vor.

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