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Veloerreichbarkeit Sisslerfeld für unterschiedliche Nutzendengruppen

Alexander Erath | 17. September 2024

Wie können Velorouten im und ums Sisslerfeld so gestaltet und ausgebaut werden, dass sie den Bedürfnissen unterschiedlichen Nutzendengruppen gerecht werden? Diese Frage stand im Mittelpunkt der BSc-Arbeit von Nils Minder. Mithilfe der LTS-Methode (Level of Traffic Stress) wurden bestehende Veloinfrastrukturen analysiert und gezielte Verbesserungsmassnahmen entwickelt.
Die Ergebnisse zeigen, dass ein gezielter Ausbau der Velorouten das Potenzial hat, die Erreichbarkeit erheblich zu verbessern und gleichzeitig die Sicherheit für alle Velofahrenden zu erhöhen. In diesem Beitrag erfahren Sie, wie diese Erkenntnisse gewonnen wurden und welche konkreten Handlungsempfehlungen sich daraus ableiten lassen.

Velorouten für alle Nutzendengruppen: Planung für Sisslerfelds Wachstum

Das Sisslerfeld im Kanton Aargau steht vor einem grossen Wandel: Mit bis zu 10’000 neuen Arbeitsplätzen wird die Region in den kommenden Jahren stark wachsen. Doch mit dieser Entwicklung stellt sich die Frage, wie die Mobilität in der Region nachhaltig und effizient gestaltet werden kann. Der Kanton hat entschieden, das Velo als zentrales Verkehrsmittel zu fördern.

Die Herausforderung besteht darin, Velorouten zu entwickeln, die für alle Nutzendengruppen – von vorsichtigen bis hin zu erfahrenen Velofahrenden – geeignet sind. In der aktuellen Diskussion um nachhaltige Mobilität und Verkehrsplanung wird oft übersehen, dass unterschiedliche Velonutzende unterschiedliche Anforderungen haben. Hier setzt die BSc-Arbeit an, indem sie bei der Erreichbarkeitsmessung die unterschiedlichen Infrastrukturbedürfnisse der verschiedenen  Nutzendengruppen berücksichtigt und darauf basierend konkrete Handlungsempfehlungen zur Verbesserung der Veloerreichbarkeit in Sisslerfeld gibt.

Bewertung des Velonetzes gemäss «Level of Traffic Stress»

Der Ansatz «Level of Traffic Stress» (LTS) bezieht sich auf die subjektive Wahrnehmung der Velofahrer, ob sie eine bestimmte Kreuzung oder einen Strassenabschnitt befahren oder eher meiden würden. Bei der LTS-Methode werden Velofahrende nicht als homogene Gruppe betrachtet, da das Stressniveau im Strassenverkehr sehr unterschiedlich wahrgenommen wird. Daher werden die Velofahrer in vier verschiedene Nutzendengruppen unterteilt: von der eher unsicheren LTS-Gruppe 1 bis zur furchtlosen LTS-Gruppe 4.

LTS 1: Nichtfahrende (45%)LTS 2: Gelegenheitsfahrende (20%)LTS 3: Gewohnheitsfahrende (20%)LTS 4: Alltagsfahrende (15%)
– Unsicher
– Unerfahren
– Benötigen abgetrennte Infrastrukturen
– Alter 8-80
– Interessiert aber besorgt
– Grossteil der Erwachsenen
– Benötigen verkehrsberuhigte Strassen oder gute Infrastruktur
– Fühlen sich meistens wohl
– Können mittleren Stress tolerieren
– Sind zufrieden mit wenig/keiner Infrastruktur
– Fühlen sich immer wohl
– Können hohen Stress tolerieren
– Fahren unter allen Umständen
Aufstellung der LTS-Gruppen gemäss Furth et al., 2016; Walter Urs und Wernher Brucks, 2021 

Die Methode wurde im Jahr 2012 von Mekuria, Furth und Nixon für das Mineta Transportation Institute entwickelt und etablierte sich in den USA rasch als best practice zur Bewertung der Befahrbarkeit von Velonetzen für verschiedene Nutzendengruppen. In einer MSc-Arbeit der Universität Zürich passte Tim Fässler die LTS-Methode an die Verhältnisse der Stadt Zürich an.

LTS-Bewertungsraster für die Schweiz

Im ersten Schritt wurde das Bewertungsraster entwickelt, um sicherzustellen, dass alle Strecken und Knoten nach den gleichen Kriterien bewertet werden. Je nach Geschwindigkeit des motorisierten Individualverkehres, Verkehrsmenge und Art der Veloführung wurde jeweils ein LTS-Level zugewiesen. Eine wichtige Quelle für dies Zuweisung ist das Diagramm des Masterplans Veloinfrastruktur Bern, welches aufzeigt bei welcher Geschwindigkeit und Verkehrsmenge welche Veloführung umzusetzen ist.

Abbildung 2: Bewertungskonzept für die Bewertung der Strecke nach der LTS-Methode

Erstmalig wurde in der BSc-Arbeit auch ein LTS-Bewertungsraster für Knoten entwickelt und eingesetzt.

Abbildung 2: Bewertungskonzept für die Bewertung von Knoten (Kreuzungen) nach der LTS-Methode

Die Bewertungen der Strecken und Knoten wurden im kantonalen Verkehrsmodell Aargau mit Hilfe der Software PTV-Visum hinterlegt. Dabei wurden für die wichtigsten Strecken und Abbiegebeziehungen bei Knoten im Umfeld des Sisslerfelds die gemäss dem Bewertungsraster vorliegende LTS-Einstufung vorgenommen.

Verbesserungen der Erreichbarkeit durch gezielte Massnahmen

Nachdem der IST-Zustand erfasst wurde, wurden die vorgesehenen Massnahmen seitens des Kantons Aargau und der Sisslerfeldgemeinden zu zwei verschiedenen Massnahmenpaketen (MaP) zusammengefasst:

MaP1 – Bau neuer Veloverbindungen:

  • Erschliessungsstrasse im Sisslerfeld «Südspange»
  • Eiken – Sisslerfeld
  • Sisseln – Sisslerfeld
  • Neue Rheinüberquerung (Bad Säckingen – Stein)

MaP2 – Ergänzungen von Veloinfrastrukturen:

  • Ausbau von Velospuren bei 50er-Strecken

Durch die Umsetzung von MaP1 und MaP2 entstanden jedoch Lücken, da zusätzliche Verbesserungen erforderlich waren, um den Anforderungen der unteren LTS-Gruppen gerecht zu werden. Um diese Lücken zu schliessen, wurden weitere Massnahmen berücksichtigt (MaP3).

MaP3 – Eigene Massnahmen

  • Verbesserungen der Veloinfrastruktur an Kreuzungen
  • Ausbau von Velowegen ausserorts
  • Neue Rheinüberquerung (Murg – Kaisten)

Abbildung 3: Beispiel MaP3: Bewertung eines Knotens (Stein, Schaffhauserstrasse/Zürcherstrasse) nach LTS und mögliche Massnahmen zur Verbesserung des Knotens nach Masterplans Verkehrsplanung Stadt Bern, 2020

Anschliessend wurden die Isochronen mit den Bevölkerungsdaten im Umkreis von 15 km verschnitten. Ebenfalls wurden die Geschwindigkeiten der drei verschiedenen Velotypen—normales Velo, Pedelec und S-Pedelec—für jede LTS-Gruppe hinterlegt und berechnet. Die Ergebnisse wurden schliesslich sowohl zwischen den vier verschiedenen LTS-Gruppen als auch zwischen den Velotypen und den Maßnahmenpaketen im Vergleich zum IST-Zustand miteinander verglichen.

Ergebnisse

Vom IST-Zustand zu MaP1 wird die Erreichbarkeit verbessert Diese Verbesserung ergibt sich einerseits durch die neue Südspange Sisslerfeld (Bereich A) und andererseits durch den die neue Rheinüberquerung (Bereich B), die auf der Deutschen Seite (Bad Säckingen) die Erreichbarkeit erhöht. Bei MaP2 wurden zusätzlich alle umliegenden 50-km/h-Strassen mit Velospuren ausgestattet, was zu einer weiteren Verbesserung der Erreichbarkeit des Sisslerfelds in den Gemeinden Sisseln, Frick und Oberfrick führte (Bereich C). Mit der zusätzlichen Masnahme MaP3 konnte die Veloerreichbarkeit des Sisslerfeldes erneut verbessert werden. Dies liegt vor allem an den verbesserten Veloinfrastrukturen an den Knotenpunkten und dem Bau von Velowegen auf ausserörtlichen Strecken mit Geschwindigkeiten bis zu 80 km/h (Bereich E und F). Dank der Geschwindigkeitsreduktion von 60 km/h auf 50 km/h konnte nun auch die Erreichbarkeit der Gemeinde Kaisten verbessert werden (Bereich G). Durch die neue Rheinüberquerung (Bereich D) stieg die Veloerreichbarkeit in Murg (Deutschland).

Abbildung 4: Verbesserung der Erreichbarkeit des Sisslerfeldes mit normalen Velos mittels MaP (LTS 2)

Bei der Interpretation der Ergebnisse ist zu beachten, dass die räumliche Auflösung der Bevölkerungsdaten im deutschen Gebiet (1 Datenpunkt pro Quadratkilometer) für die Messung der Veloerreichbarkeit deutlich zu grob sind. Daher sind alle Angaben der Erreichbarkeitsveränderung vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Messgenauigkeit zwischen Gebieten in der Schweiz und Deutschland zu interpretieren.

Die Verbesserungen der Erreichbarkeit sind deutlich erkennbar: Beim normalen Velo beträgt die relative Erhöhung der Erreichbarkeit zwischen 40% (LTS 4) und 90% (LTS 1), beim Pedelec zwischen 30% (LTS 3) und 65% (LTS 1) sowie beim S-Pedelec zwischen 20% (LTS 2) und 70% (LTS 1). Diese Ergebnisse bestätigen, dass solche Verbesserungen im Raum Sisslerfeld notwendig sind.

Abbildung 4: Wirkungen der Massnahmenpakete nach LTS-Level und Velotyp

Ausbau der Velorouten ums Sisslerfeld hat Potenzial

Das Potenzial für den Ausbau im Sisslerfeld ist gross, insbesondere für Nutzendengruppen, die sich eher unsicher auf dem Velo fühlen und mehr Komfort und Sicherheit benötigen. Wenn der Veloverkehr in Zukunft gefördert werden soll, muss bei der Neuplanung von Velorouten darauf geachtet werden, dass die Veloinfrastrukturen tatsächlich für jede Nutzendengruppe geeignet sind.

Besonders wichtig sind die Knotenpunkte, da oft beobachtet wurde, dass eine sichere Veloführungen dort bisher vernachlässigt wurde. Gerade die LTS-Gruppen 1 und 2 benötigen an Knotenpunkten sichere Veloführungen (z.B. indirektes Linksabbiegen) oder abgetrennte Velowege, insbesondere wenn ausserorts Strassen mit Höchstgeschwindigkeit 80 km/h-zu queren sind, um die Sicherheit der Velofahrenden zu gewährleisten. In 50er-Zonen sollten, wie von den Sisslerfeldgemeinden gefordert, entweder Velospuren eingerichtet oder die Geschwindigkeit auf 30 km/h gesenkt werden.

Grenzen und Ausblick

Aufgrund zeitlicher Knappheit konnten nicht alle Strecken und Knoten nach der LTS-Methode bewertet werden. Die nicht bewerteten Abschnitte wurden daher der LTS-Gruppe 1 zugeordnet, was zu einem tendenziell zu optimistischen Ergebnis hinsichtlich der Veloerreichbarkeit führte. Zudem bei der Berechnng der Erreichbarkeit keine Steigungen berücksichtigt, obwohl dies ein wichtiger Aspekt für Velofahrende ist.

Aufgrund der unterschiedlichen räumlichen Auflösung der Bevölkerungsdaten in der Schweiz und Deutschland unterliegt die Quantifizierung der Erreichbarkeit dem „Modifiable areal unit problem“. Für zukünftige Anwendung zur Messung der Veloerreichbarkeit wird daher empfohlen, dass die Strukturdaten für das ganze Untersuchungsgebiet in der gleichen räumlichen Auflösung verfügbar sind. Das in der Schweiz gebräuchliche Hektarraster erscheint dafür gut geeignet.

Die Einführung von E-Bikes ermöglicht es auch Nutzendengruppen, die Schwierigkeiten mit herkömmlichen Velos haben, wie z.B. älteren Menschen (LTS-Gruppe 1), besser voranzukommen. Daher wird es in Zukunft entscheidend sein, sicherzustellen, dass die Veloinfrastruktur für alle Nutzendengruppen geeignet und befahrbar ist. Die LTS-Methode bietet eine wertvolle Grundlage zur Bewertung solcher Fragestellungen, muss jedoch an die spezifischen Gegebenheiten in der Schweiz angepasst werden, um effektiv in der Verkehrsplanung der Kantone angewandt werden zu können.

Autoren

Dieser Blogbeitrag wurde von Nils Minder verfasst und Alex Erath redigiert.

Schlagworte: Bachelorarbeit, Erreichbarkeit, FHNW, Level of traffic stress, Sisslerfeld

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