Master-Thesis: Analyse der Relevanz von weg- und tourenbasierten Verkehrsmittelansätzen am Beispiel eines aggregierten und eines aktivitätenbasierten Verkehrsmodells der Stadt Halle
Die vorliegende Masterarbeit untersucht, wie sich die methodischen Unterschiede von weg- und tourenbasierten Verkehrsmittelwahlansätzen für praktische Anwendungsfälle auf die Resultate auswirken. Das Herzstück der Arbeit ist die Abschätzung der Wirkung des Aggregation Bias auf Basis von zwei Verkehrsmodellen, die auf den gleichen Grundlagedaten beruhen. Das erste, disaggregierte Modell basiert auf dem Grundmodell ABM Halle und wurde als aktivitätenbasiertes Nachfragemodell für die Verwendung im Rahmen dieser Masterarbeit weiterentwickelt. Die skriptbasierte Weiterentwicklung umfasst bspw. eine Erweiterung der verfügbaren Mobilitätswerkzeuge. Das zweite, aggregierte Modell verwendet die gleiche Verkehrsnachfrage, wie sie im disaggregierten Modell vorliegt. Die bestehende Nachfrage wird aber nach Verkehrszwecken aggregiert und die Verkehrsmittelwahl dann pro Verkehrszweck nicht auf Ebene einzelner Weg und Personen, sondern aggregiert ermittelt.
Ausgangslage und Ziele
Ziel der Masterarbeit ist es, die Relevanz von weg- und tourenbasierten Verkehrsmittelwahlansätzen am Beispiel eines aggregierten und eines aktivitätenbasierten Verkehrsmodells zu analysieren. Im Zentrum der Masterarbeit stand die Beantwortung der folgenden Forschungsfrage:
Wie wirkt sich ein touren- und personenbasierter disaggregierter Ansatz zur Verkehrsmittelwahl im Vergleich zu einem wegbasierten aggregierten Ansatz auf die Abschätzung der Wirkung bestimmter verkehrsplanerischer Massnahmen aus?
Implementierung der Modelle
Um einen aussagekräftigen Vergleich zu ermöglichen, wurden zwei Verkehrsmittelwahlmodelle entwickelt, die auf den gleichen Grundlagen beruhen und somit erlauben, die Wirkung der unterschiedlichen Ansätze unabhängig von weiteren, möglichen Modellunterschieden zu beschreiben. Beim ersten Modell handelt es sich um ein disaggregiertes und tourenbasiertes Verkehrsmittelwahlmodell, das auf dem aktivitätenbasierten Verkehrsmodell für die Region Halle basiert, das mit der Software PTV Visum als Anwendungsbeispiel zur Verfügung steht Halle ABM Tour). Auf der Nachfrage des ersten Modells aufbauend wurde das zweite, aggregierte und wegbasierte Verkehrsmittelwahlmodell (Halle AGGR Weg) implementiert. Die nachfolgende Abbildung 1 gibt einen Überblick über den Aufbau der beiden Verkehrsmittelwahlmodelle. Die Aggregation in Schritt A (vgl. Abbildung 1) wird mittels R-Skript umgesetzt. Zum Zeitpunkt der Aggregation liegt im Modell Halle ABM Tour eine disaggregierte Nachfrage in Form von Wegen vor, die im Modell «Trips» genannt werden. Diese Nachfrage wird nach Verkehrszwecken auf Bezirksebene aggregiert und über den Verfahrensablauf von PTV Visum in das Modell Halle AGGR Weg geladen.
Massnahmen
Zur Beantwortung der eingangs formulierten Forschungsfrage wurden drei relevante verkehrsplanerische Massnahmen definiert. Da die beiden Modelle nur den durchschnittlichen Werktagsverkehr (DWV) abbilden und keine stundenfeine Verkehrsnachfrage enthalten, umfassen die Massnahmen keine tageszeitspezifischen Verkehrslenkungsmassnahmen, wie z. B. Mobility Pricing. Bei der Massnahmenwahl wurde auf ein möglichst grosses Verkehrsmittelspektrum geachtet. Die nachfolgende Tabelle gibt eine Übersicht über die drei gewählten Massnahmen.
Tabelle 1: Verkehrsplanerische Massnahmen
Nr. | Name | Kurzbeschrieb |
M1 | Erhöhung Fahrgeschwindigkeit Velo | Erhöhung Fahrgeschwindigkeit v0 beim Velo von 15 km/h auf 20 km/h |
M2 | Einführung Parkierungsgebühr Innenstadt | In einem Innenstadtbereich wird eine Parkierungsgebühr für den MIV auf Ebene Zielbezirk simuliert. |
M3 | Einführung 9-Euro-Ticket | Etwa 40 % der synthetischen Bevölkerung erhalten ein 9-Euro-Ticket. Modellierung geringer Reisekosten im ÖV |
Für diesen Blogbeitrag wird die dritte Massnahme, also die Einführung des 9-Euro-Tickets genauer unter die Lupe genommen. Bei der dritten Massnahme wurden insgesamt drei Hypothesen aufgestellt:
- Hypothese 1: Für beide Modelle wird aufgrund der Einführung des 9-Euro-Tickets eine allgemeine Erhöhung der Verkehrsmittelanteile des ÖV erwartet.
- Hypothese 2: Da die Kosten im Vergleich zum MIV auch für lange ÖV-Reiseweiten sehr günstig sind, wird bei beiden Modellen eine Erhöhung der Anteile bei längeren ÖV-Distanzen erwartet.
- Hypothese 3: Aufgrund des tourbasierten Ansatzes zur Beschreibung der Verkehrsmittel (z. B. für Subtouren) wird erwartet, dass mit dem disaggregierte Modell auch der Anteil der zu Fuss zurückgelegten Wege ansteigt. Beim aggregierten Modell wird analog den anderen Verkehrsmitteln auch beim Fussverkehr eine Abnahme der Anteile erwartet.
Analyse der Einführung des 9-Euro-Tickets
Die Analyse untersucht die Wirkung der Einführung eines 9-Euro-Tickets. Durch das 9-Euro-Ticket wird aufgrund der einschlägigen Erhöhung des Nutzens für den ÖV bei beiden Modellen eine deutliche Zunahme der Verkehrsmittelanteile im ÖV erwartet. Nicht ganz unerwartet unterstützen die Ergebnisse der Berechnungen diese Hypothese 1. Wie aus Tabelle 2 hervorgeht, liegt die Zunahme der Verkehrsmittelanteile im aggregierten Modell im ÖV bei 10.8 % und im disaggregierten Modell bei 9.1 %. Wie bei den vorhergehenden Massnahmen zeigt sich eine deutlich höhere Veränderung im aggregierten Modell. Im vorliegenden Fall liegt der Unterschied bei beträchtlichen 1.7 Prozentpunkten.
Tabelle 2: Verkehrsmittelwahlanteile der Massnahme 3 (Werte gerundet)
Halle AGGR Weg | Halle AGGR Weg | Halle AGGR Weg | Halle AGGR Weg | Halle ABM Tour | Halle ABM Tour | Halle ABM Tour | Halle ABM Tour | |
Verkehrsmittel | MIV | ÖV | Velo | Fuss | MIV | ÖV | Velo | Fuss |
Basisszenario | 51.7% | 17.3% | 15.6% | 15.4% | 51.5% | 18.3% | 15.2% | 15.0% |
Mit Massnahme 3 | 44.6% | 28.2% | 12.2% | 15.1% | 45.6% | 27.3% | 10.8% | 16.2% |
Veränderung | -7.1% | +10.8% | -3.4% | -0.4% | -5.9% | +9.1% | -4.4% | +1.2 |
Abbildung 2 und Abbildung 3 illustrieren, welche Weglängen gegenüber dem Basisszenario die grösste Zunahme zu verzeichnen haben. Im aggregierten Modell verzeichnen die Distanzklassen mit Weglängen unter 10 km einen unterdurchschnittlichen Zuwachs an Wegen. Ab Weglängen über 10 km zeigt sich ein umgekehrtes Bild. Ab da verzeichnen alle Distanzklassen überdurchschnittliche Zuwachsraten. Ein fast identisches Ergebnis ist im disaggregierten Modell zu beobachten. Der Unterschied besteht darin, dass die Weglängen bereits ab den Distanzklassen über 8 km einen überdurchschnittlichen Zuwachs erfahren. Die Hypothese 2 findet demzufolge in beiden Modellen Bestätigung.
In Hypothese 3 wurde prognostiziert, dass der Fussverkehrsanteil aufgrund des tourenbasierten Modellansatzes im disaggregierten Modell zunehmen, mit dem aggregierten Ansatz hingegen abnehmen wird. Tatsächlich verzeichnet das disaggregierte Modell eine Erhöhung der Fussverkehrsanteile um 1.2 %, während die Anteile beim aggregierten Modell um 0.4 % sinken.
Ergebnisse und Erkenntnisse
Die Modellberechnungen legen nahe, dass ein aggregierter und wegbasierter Ansatz bei der Berechnung der Wirkung der verkehrsplanerischen Massnahmen gegenüber einem disaggregierten und tourenbasierten Ansatz eine etwa 0.5 – 2.0 % grosse Überschätzung der Verkehrsmittelanteile (Aggregation Bias) hervorruft. Aufgrund dieser Erkenntnis ist bei der Verwendung von aggregierten Verkehrsmodellen zur Berechnung des Nutzes im Infrastrukturbereich besondere Achtsamkeit gefragt. Dies gilt insbesondere bei der Modellierung von Massnahmen, bei denen wir wissen, dass personenbezogene Entscheidungen oder Merkmale (z. B.ÖV-Abonnementsbesitz) eine entscheidende Rolle spielen. Die tourenbasierte und disaggregierte Verkehrsmittelwahl offenbart im Vergleich zur wegbasierten Verkehrsmittelwahl eine weitere Wirkung auf verkehrsplanerische Massnahmen, die überwiegend bei ÖV-Massnahmen zum Vor-schein kommt. Aufgrund der Modellierung von Wegabfolgen ist eine starke (und realitätsnahe) Beziehung zwischen dem ÖV und Fusswegen (z. B. bei Zwischentouren) vorhanden. Diese Beziehung führt dazu, dass bei steigenden Verkehrsmittelanteilen im ÖV folglich auch die verketteten Fussverkehrsanteile zunehmen. Aggregierten Modelle vermögen diese nachweislich vorhandenen Zusammenhänge zwischen dem Fussverkehr und dem ÖV nicht genügend abzubilden. Verkehrsmodelle die als Anwendungsfall auch multimodale Wegabfolgen untersuchen und vorhersagen sollen, liegt die Empfehlung nahe, ein ABM zu verwenden.
Dokumente
Konferenzbeitrag, vorgestellt an der Swiss Transport Research Conference 2023 (Paper, Folien)
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