Der schiefe Blick von PISA
Essen vertreibt den Hunger und Lesen vertreibt die Dummheit. (Chinesisches Sprichwort)
Seit dem Jahr 2000 werden weltweit im 3-Jahrestakt 15-Jährige hinsichtlich ihrer Fähigkeiten getestet, Texte zu verstehen, mathematische Probleme zu lösen und naturwissenschaftlich zu denken. Ziel dieses umfangreichen Unterfangens, das PISA genannt und im Auftrag der OECD durchgeführt wird, ist zu erfassen, wie gut Schülerinnen und Schüler am Ende der obligatorischen Schulzeit darauf vorbereitet sind, den Herausforderungen des modernen Lebens zu begegnen.
von Susanne Grassmann
Die PISA-Ergebnisse werden üblicherweise in Ranglisten publiziert und diskutiert. Dabei wird suggeriert, dass die je von der Schülerschaft eines Landes erreichten Leistungen die Leistungsfähigkeit des jeweiligen Bildungssystems widerspiegeln: Die Länder auf den vorderen Rängen haben die besseren Bildungssysteme, von denen muss man lernen, ihrem Beispiel folgen.
Die Schweiz belegt eine solche Vorreiterrolle. Wir können stolz sein, dass wir in Mathematik auf Platz 2 in der Rangliste der OECDLänder stehen und in den Naturwissenschaften immerhin über dem OECD-Durchschnitt auf Platz 8 gelandet sind. Betrübt nehmen wir jedoch zur Kenntnis, dass die Lesekompetenz der Schweizer Schülerschaft laut PISA nur durchschnittlich ist; ein magerer 18. Rang im OECD-Vergleich – und was beinah noch mehr schmerzt: keine Veränderung, keine Verbesserung seit 2000 – und das trotz der vielfältigen Massnahmen, Weiterbildungen und Materialien zur Leseförderung, die in den vergangenen Jahren entwickelt worden sind – auch am Zentrum Lesen. Es herrscht etwas Ratlosigkeit. Was soll man tun? Wo liegt eigentlich das Problem?
Auf der Suche nach Erklärungen für die durchschnittliche Lesefähigkeit von Schweizer Schülern und Schülerinnen soll an dieser Stelle ein Aspekt in den Fokus genommen werden, der in der bisherigen Debatte um PISA-Ergebnisse häufig übersehen wird: Die Rolle der Kultur.
Andere Länder – andere Sitten
Der Einfluss von kulturellen Werten auf die Schulleistungen ist gross. Zum Beispiel ist belegt, dass kulturelle Faktoren einen Einfluss auf das Lernen haben (Yamazaki, 2005). Erste Untersuchungen belegen ausserdem, dass PISA-Leistungen stärker von kulturellen Werten als von Schulsystemen beeinflusst werden (Feniger & Lefstein, 2014). So sind die PISA-Leistungen in Mathematik von SchülerInnen mit chinesischem Migrationshintergrund in Australien und Neuseeland besser als die der MitschülerInnen ohne Migrationshintergrund – und ähnlich den Leistungen von Schülern und Schülerinnen in Shanghai.
Im Kasten wird eine explorative Analyse berichtet, die zeigt, dass auch die Leseleistungen weltweit von verschiedenen kulturellen Werten abhängen. Insbesondere zeigt sich, dass Lesekompetenzen in individualistischen Kulturen besser sind als in Kulturen, in denen die Gemeinschaft und der Konsens von grösserer Bedeutung sind. Weiterhin stehen strenge Regeln und Bürokratien zur Vermeidung von Unsicherheiten im Zusammenhang mit schlechteren Lesekompetenzen.
Insbesondere in der deutschsprachigen Schweiz sind Regeln und Normen sowie stabile Gewohnheiten von grossem Wert (Chhorkar, 2007). Da ist es nicht verwunderlich, dass Schüler und Schülerinnen bei PISA mit dem individuellen Reflektieren und Bewerten von Informationen und Standpunkten Schwierigkeiten haben (vgl. Nidegger et al. 2010: 15). Auch wenn dies mit Blick auf die Anforderungen der direkten Demokratie widersprüchlich scheint: Das eigenständige Bewerten von Sachlagen steht im Widerspruch zur hohen Wertschätzung des Befolgens von Gewohnheiten und Regelungen. Das heisst, dass derartige Aktivitäten im alltäglichen gesellschaftlichen Leben hierzulande vergleichsweise weniger geübt werden als z. B. in den USA (Wo bei PISA in der Teilkompetenz «Reflektieren und Bewerten» eine vergleichsweise hohe Punktzahl erreicht wird).
In der öffentlichen Debatte um PISA-Ergebnisse wird der Einfluss von kulturellen Werten auf Schülerleistungen häufig ignoriert. Das liegt wahrscheinlich an der ersten Maxime, die der Entwicklung der PISA-Aufgaben zugrunde lag: «Effects of cultural differences which are not relevant or important to the main purposes of the study should be minimized to the extent possible.» (zitiert nach McQueen & Mendelovits, 2003). Aber auch nach der Vereinheitlichung von Bildungssystemen nach Bologna sind SchulabgängerInnen aus verschiedenen Ländern nicht unisono für die Herausforderungen des modernen Lebens überall auf der Welt vorbereitet. Ein Schulabgänger aus der Schweiz ist ebenso wenig auf die Herausforderungen des modernen Lebens in Holland vorbereitet wie auf das Leben in der Russischen Föderation – und das muss er auch nicht. Eine wichtigere Frage ist, inwieweit er auf das Leben in der Schweiz vorbereitet ist.
Neue Blicke auf die PISA-Lesekompetenzen
Die hier zitierten und im Kasten neu aufgezeigten empirischen Daten zeigen, dass die spezifischen kulturabhängigen Erfahrungen, die Schüler und Schülerinnen machen, ihre PISA-Leistungen beeinflussen. Man sollte entsprechend PISA-Ergebnisse immer 1) mit Blick auf die jeweiligen kulturellen Gegebenheiten und Kommunikationsweisen und 2) mit Blick auf die je landestypischen Leseanforderungen interpretieren.
Für die Leseförderung bedeutet das, dass es in Zukunft detaillierte Analysen geben sollte, die die notwendigen Lesekompetenzen zur Teilhabe an gesellschaftlichen, privaten und wirtschaftlichen Aktivitäten vor dem Hintergrund schweizerischer Werte und Normen ermittelt. Nur auf einer solchen Basis können zukünftige Ansätze zur Leseförderung zielführend in der jeweiligen Kultur sein.
Was tun?
Die empirischen Daten zeigen: Wir können die Schulkulturen aus Ländern nicht einfach übertragen. Es wurden aber in der Schweiz Materialien und Methoden entwickelt, die hierzulande durchaus wirksam sein können. Sie können diese Materialien online einsehen und frei herunterladen.
Zusammenhänge zwischen kulturellen Werten und PISA-Ergebnissen im Lesen
Für eine explorative Untersuchung wurden Zusammenhänge zwischen den kulturellen Dimensionen aus zwei verschiedenen kulturvergleichenden Studien mit den Leseleistungen von Schülern und Schülerinnen aus 24 Ländern in den Jahren 2009 und 2015 berechnet. Für das Jahr 2009 stehen Daten über die Ausprägung von Teilkompetenzen zur Verfügung.
Globale Lesekompetenz
1. Die kulturellen Dimensionen «In-Group Collectivismus»1 und «Individualismus»2 hängen stark mit der Lesekompetenz zusammen. Dass bedeutet, dass die Leseleistungen von Schüler und Schülerinnen besser sind, je höher in ihrer Kultur Individualismus gewertet wird und je unwichtiger Loyalität zu Freunden und Familie ist.
2. Die kulturelle Dimension «Vermeidung von Unsicherheit»1 hängt umgekehrt mit dem Erreichen hoher Kompetenzstufen im Lesen zusammen. Das bedeutet, dass Schüler und Schülerinnen aus Kulturen, in denen Unsicherheiten und Ambiguitäten vermieden werden, es schwerer fällt, insbesondere indirekte Informationen in Texten zu identifizieren, zu interpretieren und zu bewerten.
3. Die kulturelle Dimension «Genussorientierung»2 hängt umgekehrt mit hohen Lesekompetenzen zusammen. Das bedeutet, dass Schüler und Schülerinnen aus Ländern mit hoher Genussorientierung seltener hohe Lesekompetenzen erreichen als diejenigen aus Ländern mit strenger Regulierung von genussorientiertem Verhalten.
4. Die kulturelle Dimension «Maskulinität» korreliert signifikant mit dem Unterschied zwischen Buben und Mädchen. Das bedeutet, dass Schüler und Schülerinnen aus Kulturen, in denen Erfolg und Zielstrebigkeit gegenüber Kooperation und Konsensorientierung stärker gewichtet werden, stärkere Unterschiede in der Lesekompetenz von Buben und Mädchen haben.
Teilkompetenzen
1. Analog zu den Analysen zur globalen Lesekompetenz finden sich Zusammenhänge zwischen «In-Group Collectivismus»1 / «Individualismus»2 und Lesekompetenz für alle Teilkompetenzen.
2. Die Teilkompetenz «Reflektieren und Bewerten» hängt schwach umgekehrt mit der kulturellen Dimension «Vermeidung von Unsicherheit»2 zusammen. Das bedeutet, dass Schüler und Schülerinnen aus Kulturen, in denen unstrukturierte, unbekannte oder ambige Situationen vermieden werden, weniger gewohnt sind selbständig zu reflektieren oder zu bewerten.
3. Die Teilkompetenz «Informationszugriff» hängt mit der kulturellen Dimension «Institutioneller Kollektivismus»1 zusammen. Das heisst, Schüler und Schülerinnen aus Kulturen, die Gruppeninteressen gegenüber individuellen Interessen hervorheben, sind es gewohnter, implizite Informationen zu identifizieren.
1 Chhokar (2007) / 2 Hofstede (2001)
Literatur
Chhokar, J. S., Brodbeck, F. C., House, R. J., & Global Leadership and Organizational Behavior Effectiveness Research Program (Hrsg.). (2007). Culture and leadership across the world: the GLOBE book of in-depth studies of 25 societies. Mahwah, N.J: Lawrence Erlbaum Associates.
Feniger, Y., & Lefstein, A. (2014). How not to reason with PISA data: an ironic investigation. Journal of Education Policy, 29 (6), 845 – 855.
Hofsteede, G. (2001) Culture’s Consequences: Comparing Values, Behaviors, Institutions, and Organizations Across Nations. Second Edition, Thousand Oaks CA: Sage Publications.
Nidegger, C., PISA.ch, Konsortium, & Programme for International Student Assessment (2010). PISA 2009: Schülerinnen und Schüler der Schweiz im internationalen Vergleich: erste Ergebnisse. Neuchâtel: Konsortium PISA.ch.
Yamazaki, Y. (2005). Learning styles and typologies of cultural differences: A theoretical and empirical comparison. International Journal of Intercultural Relations, 29 (5), 521– 548.