Literarische Erfahrung in der Schule anreichern

Literarische Lektüren erhalten ihre Konturen in den Köpfen der Lesenden, aber nicht nur dort.

von Andrea Bertschi-Kaufmann

Ausgestaltete Formen der Verarbeitung kommen uns auch entgegen in den Texten, mit welchen junge Leserinnen und Leser Le­seerfahrungen aufbewahren. Zum Beispiel mit diesem:

Die kleine Gans geht sersten [zum ersten] mal Schwimmen. Der Titel hat recht. die kleine Gans die wirklich nicht schnell genug war. Ich weil bar bilder [ein paar Bilder] als erinnerung haben. Fileicht get ja mein Buch ferloren. Ich hof nicht das mein Buch ferlorengeht. Ich findes schön wenn man erinnerungen hat.
(Raffael, 2. Schuljahr)

Was das Kind im zweiten Schuljahr mit eigenen Bil­dern und Texten reproduziert, sind Reaktionen einer primären Erfahrung von Literatur. Man kann solche Dokumente auch als Veranschaulichung dessen verste­hen, was Walter Benjamin in seinem Porträt des lesenden Kindes – sich biographisch erinnernd – nachzeichnet:

Für eine Woche war man gänzlich dem Treiben des Textes anheimgegeben, das mild und heimlich, dicht und unablässig, wie Schneeflocken einen umfing. Dahinein trat man mit grenzenlosem Vertrauen. Stille des Buches, die weiter und weiter lockte! Dessen Inhalt war gar nicht so wichtig. Denn die Lektüre fiel noch in die Zeit, da man selber Geschichten im Bett sich ausdachte. Ihren halbverwehten Wegen spürt das Kind nach. Beim Lesen hält es sich die Ohren zu; sein Buch liegt auf dem viel zu hohen Tisch und eine Hand liegt immer auf dem Blatt. Ihm sind die Abenteuer des Helden im Wirbel der Lettern zu lesen wie Figur und Botschaft im Treiben der Flocken. Sein Atem steht in der Luft der Geschehnisse und alle Figuren hauchen es an. Es ist viel näher unter die Gestalten gemischt als der Erwachsene. Es ist unsäglich betroffen von dem Geschehen und den gewechselten Worten und wenn es aufsteht, ist es über und über beschneit vom Gelesenen.
(Walter Benjamin: Einbahnstrasse. In: Gesammelte Schriften, Band IV.1, S. 113)

Wenn wir über literarische Erfahrung, welche die Schule vermitteln kann, reden, dann interessiert diese sehr pri­vate Sicht auf eine Lesekindheit als Bild und als Muster. Weil sie eine essenzielle Erfahrung, das Betroffen­-Sein, anschaulich macht, lohnt es sich danach zu fragen, ob und wie dieses Muster einer intimen Lektüre auf das schulisch vermittelte Lesen angelegt werden kann – auch wenn wir natürlich wissen, dass sich innige Lektüren zu einem guten Teil auch und gerade ausserhalb der In­stitution Schule abspielen. Auf das Private hat Schule selbstverständlich keinen Zugriff, aber zumindest einen indirekten Einfluss. Lehrerinnen und Lehrer, Deutschdi­daktikerinnen und Deutschdidaktiker interessieren des­ halb vor allem jene Qualitäten der literarischen Erfah­rung, die in von uns planbaren Situationen des Lernens animierbar und je nachdem auch anleitbar sind und auf deren Wirkung über die Schulmauern hinaus wir setzen können. Es tut sich aber Spannungsfeld auf zwischen der «literarischen Erfahrung» und dem, was wir traditionell unter «Literaturunterricht» verstehen.

Zum einen nämlich ist das Textangebot, aus dem sich heranwachsende Leserinnen und Leser bedienen kön­nen, in der Schule auf eine didaktisch legitimierte Aus­wahl beschränkt, die Lesestoffe, die hier zur Verfügung stehen, gelten entweder als «literarisch wertvoll», als «entwicklungspsychologisch bedeutsam» oder als «be­ sonders gut zugänglich», während die eigenständig und unabhängig von der Schule gewählten Lektüren sich in der Intimität zwischen Text und Leser/Leserin abspie­len – so ganz ohne externe lesepädagogische Absicht, je nachdem aber durchaus als eine Erfahrung mit Poesie.

Zum anderen sind die Lesezeiten, welche die Schule für das Lesen einplant, allemal bemessen, während es für die subjektiv gestalteten Erfahrungen im Umgang mit Literatur gerade typisch ist, dass Zeitgrenzen aufge­löst werden, dass extensiv gelesen oder dass Textstellen, von denen Leserinnen und Leser besonders angetan sind, wieder und immer wieder gelesen werden. Literarische Erfahrung findet nicht in den Grenzen eines Zeitbudgets statt, jedenfalls legen Leserinnen und Leser kaum je Re­chenschaft über ihren Zeitverbrauch ab. Im Gegenteil: Wenn wir Literatur geniessen vergessen wir die Zeit.

Zum Dritten verbinden wir mit der individuell gestal­teten literarischen Erfahrung auch keinerlei Rechenschaft bezüglich des Leseergebnisses, keine Rechen­schaft über das, was vom Text aufgenommen wurde. Ausserhalb von Schule und Hochschule tauschen Lese­ rinnen und Leser Lektüreerfahrungen so aus, dass sie ei­nander ihre Eindrücke mitteilen; in der Schule hingegen gilt die Frage nach dem subjektiven Eindruck (Wie hat dir der Text gefallen?) meist nur als «warming-­up­-Frage», an welche dann Fragen nach dem Verstehen und Behalten anschliessen.

Der Vergleich zwischen dem schulisch angeleiteten Lesen und dem individuellen Literaturgenuss, der frei von Lernzielen wachsen kann – dieser Vergleich hinkt, er hinkt aus vielen Gründen:

Denn einmal lässt sich das schulisch angeregte und das private Lesen in den Biographien vieler Leserinnen und Leser gar nicht trennen, das eine hat das andere vielmehr angereichert. Wir wissen aber auch, dass das familiäre Leseklima längst nicht überall so beschaffen ist, dass Kinder dort Erfahrungen mit den literarischen Stoffen selbstverständlich und mühelos sammeln können. Wir wissen dies längst, nicht zuletzt dank Studien zur Lesesozialisation wie jener von Bettina Hurrelmann (Hurrelmann et al. 1993), und wir wissen ebenso, dass schulische Bemühungen um Literaturvermittlung zum Teil zwar durchaus gelingen, dass sie zum Teil aber auch fehlschlagen.

Ob Kinder von Lektüren profitieren, ob sie deren Wir­kungen erfahren, mental und je nachdem auch sinnlich wahrnehmen, das erfahren wir letztlich nur von ihnen selber. Besonders gut lassen sich Leseentwicklungen in schriftlichen Texten beobachten, insbesondere in Tex­ten, mit welchen die jungen Leserinnen und Leser sel­ber schreiben. In ihnen hat Leseerfahrung ihren Aufbewahrungsort und sie wird hier dingfest, das heisst, für die Beobachtung greifbar und für die weitere Förderung auch aufgreifbar: für die empirische Forschung und für die begleitenden Lehrerinnen und Lehrer. Dies alleine wäre aber meines Erachtens noch kein ausreichender Grund, Schülerinnen und Schüler kontinuierlich beglei­tend zu ihren Lektüren schreiben zu lassen. Die wich­tigste Begründung liegt im Gewinn, den wir der engen Verbindung von Lesen und Schreiben zuschreiben und den wir in Projekten, zusammen mit den Kolleginnen und Kollegen in der Praxis häufig haben beobachten können.

Schreiben ist ein bewährter Weg zur Exploration des Lesealltags und der Leseerfahrung und – im Umgang mit poetisch gestalteten Texten – der literarischen Er­fahrung. Bei der Versprachlichung der Verarbeitung von Leseeindrücken in eigenen Texten handelt es sich um eine Art Transformation vom «Gedanken zum Wort zur Schrift», um einen Zugangsweg auch zur inneren Sprache. Muster für solche Transformationsprozesse finden Schreiberinnen und Schreiber in der Literatur, Kinder finden sie im Kinderbuch. Es sind geglückte Ver­bindungen von «Erfahrung und Phantasie». Diese Ver­bindungen finden wir übrigens auch bei Schülerinnen und Schülern, denen wir sie auf Anhieb nicht zugetraut hätten, weil sie einem so genannt schwachen Leistungs­zug zugeteilt sind und wir doch immer wieder davon ausgehen, dass Literaturerfahrung eine Aufgabe aus­ schliesslich für Gymnasiastinnen und Gymnasiasten sei. Dass dies ein Irrtum ist, zeigt uns Andy; er besucht den A­-Zug der Basler WBS:

Am Anfang war es schwer und ich hate einbischen angst zum Lesen zuhause übte ich mit meinem Cousin und mit meiner Tante. Manchmal lass ich auch zeitunge ich konnte es nicht verstehen was da drauf steht aber ich übte.
Als ich die Buchstaben gelernt habe wollte ich Lesen ich Konnte schon Lesen aber ich vertand den Text nicht so gut.
Ich ging in die Bibilothek ein Buch ausleihen es war spanend ich verstand es auch das Buch hiess Der Kleine Tedy Bär.
(Andy, Weiterbildungsschule A, 8. Schuljahr)

 

Literatur
Benjamin, Walter (1972): Einbahnstrasse. In: ders.: Ge­ sammelte Schriften. Bd. IV.1: Kleine Prosa/Baudelaire­ Übertragungen. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 83–148.

Bertschi­-Kaufmann, Andrea (2007): Leseverhalten be­obachten – Lesen und Schreiben in der Verbindung. In: Bertschi­-Kaufmann, Andrea (Hrsg.): Lesekompetenz – Leseleistung – Leseförderung.

Seelze­Velber & Zug: Klett/Kallmeyer & Klett und Balmer, S. 96–108.

Hurrelmann, Bettina; Hammer, Michael & Niess, Ferdi­nand (1993): Lesesozialisation. Bd. 1: Leseklima in der Familie. Unter Mitarbeit von Susanne Epping und Irene Ofteringer. Gütersloh: Bertelsmann.

Schreiben wirksam fördern. Lernarrangements und Unterrichtsentwicklung für alle Stufen

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