Textverstehen in allen Fächern
Um eine sinnvolle Herangehensweise an das Lesen in allen Fächern aufzuzeigen, ist es wichtig, sich vor Augen zu führen, welche Faktoren am Lese- und Verstehensprozess beteiligt sind.
von Nora Knechtel
Lehr-Lern-Situationen in der Schule fussen oft auf dem verstehenden Umgang mit Texten: Texte sind die Basis für den Wissenserwerb, denn aus ihnen entnehmen die Schülerinnen und Schüler Informationen zu Lerngegenständen und eignen sich Wissen an. Textverstehen ist darüber hinaus insofern von zentraler Bedeutung für das Gelingen von Unterricht, als Arbeitsaufträge ebenfalls oft schriftlich gestellt werden.
Meist liegt der Fokus der Auseinandersetzung mit einem Text im Unterricht jedoch nicht auf dem Prozess des Lesens und Textverstehens an sich, sondern auf daran anschliessenden Tätigkeiten, z.B. auf Diskussionen über Textinhalte, von denen angenommen wird, dass alle Schülerinnen und Schüler sie sich durch Lektüre bereits angeeignet haben. Mängel im Textverständnis bleiben dabei oft unbemerkt oder fallen erst aufgrund von Schwierigkeiten bei der Umsetzung von Folgeaufträgen auf.
Demnach ist es wichtig, Textverstehen anzuleiten und zu fördern – und dies nicht nur im Deutschunterricht, in welchem die Lehre des verstehenden Lesens traditionell beheimatet ist: Textverstehen liegt in der Verantwortlichkeit aller Fächer und Lehrpersonen.
Die Tatsache, dass Textverstehen Grundlage jeden Unterrichts ist, wird seit der PISA-Studie vermehrt wahrgenommen und zeigt sich auch in dem veränderten Begriffsverständnis von «Lesen». Anders als der traditionelle Lesebegriff, der vor allem literarisches Lesen fokussiert, wird nun – mit dem Konzept der «Reading Literacy» – der verstehende Umgang mit alltäglichen Texten vermehrt in den Blick gerückt (z.B. Pläne, Tabellen, Gebrauchsanweisungen u.a.). Dabei sollten Ansätze des traditionellen Lesens und der Reading Literacy nicht als einander entgegengesetzt betrachtet werden, sondern – und dies gilt besonders hinsichtlich des Deutschunterrichts – als einander ergänzend.
Um eine sinnvolle Herangehensweise an das Lesen in allen Fächern aufzuzeigen, ist es wichtig, sich vor Augen zu führen, welche Faktoren am Lese- und Verstehensprozess beteiligt sind.
Was meint «Textverstehen»?
Ein alltägliches Verständnis legt zunächst nahe, «Lesen» als Entziffern von Buchstaben und Wörtern zu begreifen. Unbestritten handelt es sich hierbei um eine zentrale (Vor-)Bedingung für Textverstehen. Dies wird daraus ersichtlich, dass Leserinnen und Leser, deren Dekodierfähigkeit noch gering ausgeprägt ist, oft nicht verstehen, was sie lesen. Aber auch Schülerinnen und Schüler, die schnell und geläufig lesen können, haben oft Mühe, Texte wirklich zu verstehen. Textverstehen umfasst also mehr als nur das Entziffern von Buchstaben, meint mehr als blosse Lesefertigkeit. Um Sinnzusammenhänge zwischen Wörtern, Sätzen oder Textteilen herstellen zu können, aktivieren geübte Leserinnen und Leser sprachliches Vorwissen (z.B. Wissen über Wort- und Satzbau). Auch vom Text angesprochene Bereiche des Weltwissens werden aktiviert. Mit den Textinformationen und den eigenen Vorwissensbeständen bauen Leserinnen und Leser eine Gesamtvorstellung vom Textinhalt auf, sie konstruieren eine eigene geistige Vorstellung vom Text (mentales Modell). Ein solch komplexer Prozess braucht Steuerungsmechanismen. Als solche sind Lesestrategien zu bezeichnen.
Textverstehen meint also nicht nur passive Aufnahme von Inhalten, sondern aktive Sinnkonstruktion. Gerade für leseschwache Schülerinnen und Schüler stellt dies hohe Anforderungen an ihr Konzentrationsvermögen und ihre Verarbeitungsfähigkeiten. Deshalb ist auch die Lesemotivation ein wichtiger Faktor für das Textverstehen: Sie gewährleistet die nötige Ausdauer, einen Text zu lesen und zu verstehen, und sie stützt so den Leseprozess.
Dekodierfähigkeit, Lesestrategiewissen und Lesemotivation wirken in allen Situationen, in denen Schülerinnen und Schüler mit Texten umgehen, sowohl im Deutschunterricht als auch im Unterricht der anderen Fächer (Artelt/Stanat u.a. 2004).
Aber nicht nur leserseitige Faktoren bedingen das erreichbare Textverstehen, sondern auch der Text an sich kann eine bestimmte Form von Lesekompetenz verlangen. Wie kann die Förderung von Textverstehen in allen Fächern diesen Umstand berücksichtigen? Kann «Lesen in allen Fächern» demnach als fächerübergreifender Unterrichtsansatz auf dem eben skizzierten allgemeinen Verständnis von «Textverstehen» aufbauen – oder sind nicht vielmehr verschiedene Förderziele zu bedenken, abhängig von den jeweils im Fach verwendeten Texten?
Was bietet ein Text?
Texte in den verschiedenen Fächern haben jeweils eigene Inhalte und Darstellungsformen: Schülerinnen und Schüler arbeiten im Deutschunterricht mit literarischen Texten und Sachtexten, im Geschichtsunterricht mit historischen Quellen und Karten, im Geographieunterricht mit Statistiken, Diagrammen usw. Um diese Texte verstehen zu können, benötigen die Schülerinnen und Schüler (fach-)spezifische Lesekompetenzen. «Textverstehen in allen Fächern fördern» bedeutet demnach einerseits, fachspezifische Kompetenzen im Umgang mit Texten zu lehren, heisst aber andererseits auch, allgemeine Lesekompetenzen zu entwickeln. Texte, die im Unterricht verwendet werden, sind zwar fachspezifisch in Wortschatz und Darstellungsformen; sie sind aber in ihrem inhaltlichen Aufbau und hinsichtlich ihrer sprachlichen Strukturen vergleichbar (Leisen 2007). Beispielsweise werden in den meisten Fächern diskontinuierliche Texte bearbeitet, in denen Text und graphische Elemente aufeinander bezogen sind; sie verlangen Verstehensleistungen, die auf alle Texte dieses Typs angewendet werden können. Textverstehen zu fördern ist deshalb Aufgabe aller Fächer. Welche Aufgabe hat aber dabei der Deutschunterricht – und welche Aufgaben sind (auch) von den anderen Fächern zu erfüllen?
Was kann der Unterricht bieten?
Der Deutschunterricht besitzt zentrale Funktionen im Bereich der Förderung von Textverstehen. Deutschunterricht zielt darauf ab, Sprachbewusstheit auszubilden, kulturelle und ästhetische Bildung zu entwickeln sowie Kompetenzen der mündlichen/schriftlichen Rezeption/Produktion zu fördern. Im Bereich der Lehre von «Textverstehen» ist der Deutschunterricht mitverantwortlich für die Förderung von Lesemotivation (z.B. durch freie Lesezeiten, handlungs- und produktionsorientierten Literaturunterricht) und literarischer Bildung. Er ist jedoch auch aufgerufen, über die Primarstufe hinaus vermehrt grundlegende Fähigkeiten des Textverstehens (Lesefertigkeiten und -strategien) zu entwickeln.
Hinsichtlich des Leseverstehens übernimmt der Deutschunterricht damit eine Art «Dienstleistungsfunktion» für die anderen Fächer. Die im Deutschunterricht erlernten Lesefertigkeiten und -strategien werden in anderen Fächern dann angewendet und fachspezifisch weiterentwickelt. Dies ist aus mehreren Gründen sinnvoll und notwendig:
(a) Aus wiederholter Anwendung entsteht Routine: Die Schülerinnen und Schüler lernen, z.B. Lesestrategien in verschiedenen Kontexten sinnvoll zu gebrauchen.
(b) Darüber hinaus werden Lesekompetenzen erweitert und differenziert, indem sie auf die jeweiligen Textformen der einzelnen Fächer angewendet werden. Ein sinnvoll angeleiteter Umgang mit den Texten erweitert die fachspezifischen Lesekompetenzen der Schülerinnen und Schüler: Eine Graphik zu lesen oder aus einer politische Rede historische Informationen zu entnehmen sind Beispiele für fachspezifische Lesekompetenzen, die im jeweiligen Fach zu entwickeln sind (Spinner 2004).
(c) Sinnvoll angeleitetes Lesen in den Fächern kann nicht zuletzt über fachliches Interesse die Lesemotivation und dadurch auch die allgemeine Lesekompetenz fördern (Hackenbroch-Krafft/Parey 2004).
Lohnend wird eine Leseförderung demnach erst, wenn sie im oben skizzierten Sinn als Aufgabe aller Fächer verstanden wird. Unter Anleitung des Fachs Deutsch könnte dazu ein Lesecurriculum entwickelt werden, das für die einzelnen Jahrgangsstufen und Fächer mögliche Texte (nach Art und Schwierigkeitsgrad), Leseaufgaben und zu übende Lesestrategien beschreibt. Mit solchen Massnahmen würde ein Beitrag zu einem fächerübergreifenden und systematisch aufbauenden Lernprozess geleistet, von dem wichtige Synergien erwartet werden könnten.
Literatur
Hackenbroch-Krafft, Ida / Parey, Evelore (2004): Aktiv Lesen! Methodentraining für die Arbeit mit Sachtexten. Paderborn: Schöningh Verlag.
Leisen, Josef (2007): Lesen in allen Fächern. In: Bertschi-Kaufmann, Andrea (Hrsg.): Lesekompetenz – Leseleistung – Leseförderung. Grundlagen, Modelle, Materialien. Zug: Klett und Balmer Verlag. S. 189-197.
Schiefele, Ulrich / Artelt, Cordula / Schneider, Wolfgang / Stanat, Petra (Hrsg.) (2004): Struktur, Entwicklung und Förderung von Lesekompetenz. Vertiefende Analysen im Rahmen von PISA 2000. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften.
Spinner, Kaspar H. (2004): Lesekompetenz in der Schule. In: Schiefele, Ulrich / Artelt, Cordula / Schneider, Wolfgang / Stanat, Petra (Hrsg.): Struktur, Entwicklung und Förderung von Lesekompetenz. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, S. 125-138.