«Richtig» schreiben – «richtig» lesen. Perspektiven aus Forschung und Praxis
Debatte um Standards in der Schule: Am Beispiel der Schreibens und Lesens wird aufgezeigt, was aus fachdidaktischer Sicht wichtig und richtig sein soll.
Was ist wichtig? – Was ist richtig?
von Hansjakob Schneider und Martin Salzmann
Am 5. September fand an der Pädagogischen Hochschule der FHNW in Aarau die vom Zentrum Lesen mitorganisierte Lehrerinnen- und Lehrerweiterbildungstagung «Sprache ‹richtig› brauchen» statt. Das Tagungsthema reagiert auf die Debatte um Standards in der Schule: Bildungssysteme sollen, so die Theorie, von den inputorientierten Lehrplänen übergehen zu outputorientierten und verbindlich überprüfbaren Standards. Damit stellt sich die Frage der Auswahl von Wissens- und Könnensbeständen («Was ist wichtig?») ebenso wie die Normenfrage innerhalb einzelner Bereiche («Was ist richtig?»). Diese Fragen sind im Zusammenhang mit sich wandelnden gesellschaftlichen und beruflichen Bedürfnissen immer wieder neu zu reflektieren. Am Beispiel der Schreibens und Lesens wollen wir im Folgenden aufzeigen, was aus fachdidaktischer Sicht wichtig und richtig sein soll.
«Richtig» lesen
Der heute gängige Begriff des Leseverstehens ist ganz zentral von der PISA-Konzeption geprägt worden und zeichnet sich durch eine grosse Nähe zu alltagsnahen Lesehandlungen aus: So stehen ästhetisch-poetische Texte bisher lediglich im Hintergrund, wohingegen Alltagstextsorten mit hohem Informationsgehalt ein besonderes Gewicht erhalten. In der Frage «Was ist wichtig?» hat PISA also Massstäbe gesetzt, die zu einer Neugewichtung im Bereich des Leseverstehens geführt haben. Eine Neuorientierung war aus gesellschaftlicher Sicht auch gerechtfertigt, denn lange Zeit spielten diejenigen Textsorten, mit denen Erwachsene in ihrem Alltag hauptsächlich konfrontiert sind, eine untergeordnete Rolle im schulischen Leseunterricht.
Die Lesedidaktik hat diese Wende teils anerkennend zur Kenntnis genommen, sie hat aber auch kritisch darauf reagiert: Es könne nicht das einzige Ziel des schulischen Leseunterrichts sein, Schülerinnen und Schüler dazu zu bringen, Informationen aus Texten zu extrahieren, sie in Verbindung zu anderen Informationen zu setzen und diese Verstehenselemente zu interpretieren und zu beurteilen. Es müssten vielmehr auch die Motivation für das Lesen und eine stabile Praxis des Lesens und des Austausches über das Gelesene gefördert werden. Wer nämlich mit 15 Jahren gerne und viel liest – das haben die Langzeitstudien von Fend et al. (2004) gezeigt – gehört auch in späteren Lebensabschnitten noch zur Gruppe der Leserinnen und Leser. Die Lesemotivation kann sich nun durchaus aus einem Interesse an Informationen nähren, daneben jedoch sind andere wichtige Motivationsfaktoren nicht zu vernachlässigen: der emotionale Bezug zu Texten und der soziale Akt der Verständigung über Texte. In diesen Bereichen ist aber eine Beurteilung von Leseleistungen nur sehr schwer objektiv zu erheben. Die emotionale Nähe zu einem Text (und die dadurch sich einstellende Lesegratifikation) ist naturgemäss kaum standardisierbar. Ungleich einfacher ist es, die Antwort auf die Frage «Wie viele Personen im Erwerbsalter standen dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung?» vor dem Hintergrund einer Grafik zur Struktur der erwerbstätigen Bevölkerung als richtig oder falsch zu taxieren. Ein erster Versuch, Empathieleistungen beim Lesen objektiv zu beurteilen, wurde vom Zentrum Lesen unternommen und publiziert (Bertschi-Kaufmann/Schneider 2006). Dieser Test zur Erhebung der empathischen Leseleistung (TELL) wurde empirisch überprüft und hat sich als taugliches, wenn auch sehr aufwändiges Erhebungsinstrument erwiesen.
«Richtig» schreiben
Die erhitzte Diskussion um die Rechtschreibreform vor ein paar Jahren hat gezeigt, wie viele Menschen der Ansicht sind, die Rechtschreibung bestimme über die Qualität eines Textes, ja sogar über die Integrität/ Schönheit einer Sprache. Es kommt darin sehr deutlich ein Primat der Orthografie zum Ausdruck, der nicht nur sachlich falsch, sondern auch pädagogisch problematisch ist: Die geschriebene Sprache ist eine sekundäre Realisierungsform von Sprache; durch Veränderungen in der Orthografie ergeben sich weder Veränderungen in der Aussprache noch in der Ausdrucksfähigkeit (so z. B. werden Goethes Werke in keiner Weise dadurch beeinträchtigt, dass sie in moderner Orthografie erscheinen). Da die Rechtschreibung also letztlich nur eine Hülle ist, in die man Sprache giesst, kann man von orthografischer Korrektheit oder Inkorrektheit auch keine Rückschlüsse ziehen auf die sprachlichen und textuellen Qualitäten eines Schreibprodukts.
Dennoch herrscht vielerorts – auch in der Schule – häufig noch bewusst oder unbewusst die Auffassung vor, ein Text müsse vor allem orthografisch (und grammatisch) korrekt verfasst sein, um als guter Text beurteilt werden zu können. Dabei gehört so viel mehr zum Schreiben. Schreiben ist ein kommunikativer Akt, mit dem man ein Ziel erreichen will, nicht bloss ein Imitieren gewisser ästhetischer Formen, die der Lehrperson gefallen sollen. Texte stehen in Situationen, in denen sie interpretiert werden und eine Wirkung entfalten. Als Schreibende verfolgen wir das Ziel, mit einem Text bestimmte Adressaten zu erreichen und in diesen etwas auszulösen (sie zu unterhalten, zu informieren etc.). Ein guter Text zeichnet sich dadurch aus, dass er vom Adressaten oder der Adressatin so interpretiert wird, wie es vom Schreibenden intendiert war, und dass sich die Lektüre für die Lesenden lohnt. Das ist «richtig» schreiben. Eine langweilige Geschichte mit korrekter Orthografie wird niemanden unterhalten. Da Adressatin oder Adressat und Situation bei jedem Schreibakt sehr verschieden sein können, variieren die Kriterien, was ein guter Text ist, mit diesen zwei Variablen.
Was bedeutet dies für den Schreibunterricht? Zunächst einmal, dass der kommunikativen Dimension von Texten viel mehr Gewicht verliehen werden muss. Natürlich ist es weiterhin wichtig, dass man lernt, orthografisch und grammatisch korrekt zu schreiben, gerade auch, weil Situation und Adressat dies meist erfordern. Aber für die vielfältigen Funktionen, die Texte in unserer Welt haben, müssen Schülerinnen und Schüler lernen, Texte als kommunikative Akte zu verstehen, Situationen zu beurteilen, die Perspektive möglicher Adressaten zu übernehmen und strategisch zu denken, um ihre Ziele zu erreichen. Das sind äusserst wertvolle Kompetenzen, die letztlich wichtiger sind als manche Details der Rechtschreibung. Das erfordert geeignete Schreibaufgaben. Im Sinne von Baurmann (2006) stehen solche Schreibaufgaben in Situationen, die das Schreiben eines Textes erfordern/herausfordern, in denen das Schreiben zu einem Ergebnis führt und für die Schreibenden sichtbare Folgen zeitigt.
Gewiss sind funktionale und kommunikative Aspekte von Texten schwieriger zu beurteilen als Orthografie und Grammatik, was in der Praxis häufig zur Folge hat, dass nur die letzten beiden Bereiche betrachtet werden. Aber die Schwierigkeiten bei der Beurteilung dürfen nicht dazu führen, dass diejenigen Aspekte vernachlässigt werden, die einen Text zum Text machen.
Folgerungen für die Standardisierungsdebatte
Die von uns hier kompensatorisch in denVordergrund gerückten Teilbereiche von Lese- und Schreibkompetenzen haben eines gemeinsam: Die Normen für ihre Beurteilung sind weniger eindeutig zu fassen und ihre Standardisierung deshalb sehr aufwändig. Aus fachdidaktischer Perspektive tun wir aber gut daran, Standardisierungsprobleme nicht zum Anlass zu nehmen, schwierige Bereiche aus dem Outcome-Katalog auszuklammern. Oder mit anderen Worten: Probleme bei der Bestimmung dessen, was richtig ist, sollen unsere Auswahl dessen, was wichtig ist, nicht zu stark beeinflussen, denn eine solche Dynamik würde zu einem schulischen Ausblenden von gesellschaftlich zentralen Kompetenzen führen.
Literatur
Baurmann, Jürgen (2006): Schreiben, Überarbeiten, Beurteilen. Seelze: Klett
Bertschi-Kaufmann, Andrea; Schneider, Hansjakob (2006): Entwicklung von Lesefähigkeit: Massnahmen – Messungen – Effekte. Ergebnisse und Konsequenzen aus dem Forschungsprojekt «Lese- und Schreibkompetenzen fördern». In: Schweizerische Zeitschrift für Bildungswissenschaften 3/2006, S. 393–424.
Fend, Helmut; Berger, Fred; Grob, Urs (2004): Langzeitwirkungen von Bildungserfahrungen am Beispiel von Lesen und Computer Literacy. Ergebnisse der LIFE-Studie (Lebensverläufe von der späten Kindheit ins frühe Erwachsenenalter). In: Zeitschrift für Pädagogik 50/1, S. 56–76.