Literarisches Lernen im Anfangsunterricht
Wie Kinder mit Büchern umgehen, hängt in hohem Masse von ihren bisherigen Erfahrungen ab. Kinder, die mit Lesevorbildern aufwuchsen, Kinder, die in einer buchfreundlichen Umgebung gross geworden sind, denen von klein auf Geschichten erzählt wurden, die sich zudem über Inhalte und Erfahrungen austauschen konnten, bringen die besten Voraussetzungen für das Erlernen von Sprache und Schrift mit.
von Maria Riss
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Voraussetzungen
Die Geschichten an sich sind aber nicht ausschliesslich an die Schrift gebunden. Das heisst, dass auch Kinder, die in schriftfernen Familien aufwuchsen, denen nicht erzählt oder vorgelesen wurde, dennoch narrative Strukturen oder zumindest narrative Elemente kennen (Figurenkonstellationen, Handlungsmuster, Motive), sie haben sich diese im Laufe ihrer Kindheit zum Teil mit Hilfe von audiovisuellen Medien angeeignet (Fernsehen, Kino, Hörkassetten). Solche Kinder bringen zwar keine Lesefertigkeiten mit, ihnen ist der Umgang mit Schrift und Büchern nicht vertraut, sie haben aber ein gewisses Vorwissen im Bereich des literarischen Verstehens.
Wie allerdings eine längere Geschichte funktioniert, wie Geschichten strukturiert sind – dieses Wissen können die meisten Kinder mit TV-Filmen allein nicht aufbauen.
Hier können Bilderbücher Brücken schlagen. Reich illustrierte Geschichten bieten Kindern die Möglichkeit, Text- und Bildelemente zu verknüpfen, sie können in ihrem Tempo, nach eigenem Gutdünken vor- und zurückblättern und so lange bei einzelnen Sequenzen verweilen, wie es für das Verstehen notwendig ist. Sie können die Bilder und Texte immer wieder anschauen und so wichtige Erfahrungen im Umgang mit Büchern, Texten und Geschichten machen. Bilder und Texte erzählen die Handlung gleichzeitig, in vielen Büchern sind sie gar «gleichwertig», das heisst, dass auch Kinder, die noch nicht lesen können, Geschichten bildlesend verstehen können, indem sie ihre bereits entwickelte literarische Verstehensfähigkeit nutzen. Auch Kinder mit geringem Wortschatz oder mit fremder Muttersprache bekommen mit dieser Art von Büchern die Möglichkeit, sich literarische Kompetenzen anzueignen oder diese weiterzuentwickeln.
Untersuchungen wie jene von Harmgarth zu den Lesegewohnheiten von Kindern und Jugendlichen haben es gezeigt: In den ersten Schuljahren ist die Motivation der Kinder zum Umgang mit Büchern, zum Erlernen von Lesen und Schreiben weit höher als in allen späteren Phasen. Bilderbücher werden also die meisten Kinder, Jungen wie Mädchen, ansprechen und interessieren. Zudem hat die gleiche Untersuchung gezeigt, dass auch die Jungen dieser Jahrgangsstufe sich (noch) gerne mit Geschichten und narrativen Texten beschäftigen. Der erste grosse Motivationsknick folgt erst nach den ersten beiden Schuljahren, erst dann spielen geschlechterspezifische Vorlieben eine bedeutsame Rolle. Diese anfänglich so hohe Motivation gilt es, bestmöglich zu nutzen, indem auf unterschiedliche Interessen und Kompetenzen der einzelnen Schülerinnen und Schüler Rücksicht genommen wird und differenzierende Lernangebote sowie verschiedene Aufgaben und Lösungswege zur Verfügung gestellt werden.
Beispiel
Das Bilderbuch «Die Torte ist weg!» von Thé Tjong-Khing eignet sich für das literarische Lernen ganz besonders. Es ermöglicht ein entdeckendes, handlungs- und ressourcenorientiertes Arbeiten mit Bildern und Geschichten. Die folgenden Ziele stehen dabei im Vordergrund:
- Entsprechend ihren Kenntnissen und Fertigkeiten verwenden die Kinder Bild- und Schriftsprache in verschiedenen Formen (Sprechen, Zuhören, Zeichnen, Bilder lesen, Texte lesen und schreiben).
- Die Kinder lernen den Aufbau von Geschichten kennen.
- Die Kinder üben konzentrierte Bildwahrnehmung.
- Sie lernen verschiedene Formen der Präsentation kennen und wenden einige selber an.
Zum Inhalt und zur Intention des Buches
«Die Torte ist weg!» ist ein Bilderbuch, das diesen Namen wahrlich verdient: Es gibt in diesem Buch nämlich keine Buchstaben und Sätze, sondern einfach nur Bilder, und zwar solche, die auf wundersame Weise eine Vielzahl von Geschichten erzählen. Hier gilt es, von der ersten bis zur letzten Seite Bildersprache in Wortsprache zu übersetzen und zu übertragen.
Auf der ersten Seite des Buches klauen zwei freche Mäuse eine Torte. Auf dem gleichen Bild gibt es aber mindestens zehn andere Protagonisten, deren Geschichte man sich über die vielen Buchseiten hinweg erschliessen kann.
Thé Tjong-Khin: Die Torte ist weg! Moritz Verlag. Frankfurt 2006
Warum weint das Hasenkind denn bis fast zur letzten Seite? Wo ist das neunte Entenkind bloss geblieben und weshalb hat das Chamäleon auf der letzten Seite plötzlich einen roten Po? Ein ständiges Vor- und Zurückblättern, ein intensives und genaues Beobachten, ein Interpretieren von Verhaltensweisen und Erzählsträngen sind da gefragt und zur Verblüffung vieler Erwachsener sind Kinder beim Betrachten solcher Bilder, beim Verknüpfen einzelner Geschehnisse zu einer Geschichte oft sehr viel schneller. Es könnte sein, dass wir ob der täglichen Bilderflut die Fähigkeit zum präzisen Betrachten und zum Interpretieren von Bildfolgen verlernt haben. In diesem sinne ist dieses Bilderbuch ein absolut lehrreiches Buch, für Erwachsene genauso wie für Kinder: eine Fundgrube für das Erzählen, ein Feuerwerk voller Geschichten und Erzählstränge. Da können die Handlungsverläufe in den farbenprächtigen und detailreichen Illustrationen regelrecht erforscht werden. Auch Kinder, die Deutsch als zweite oder evtl. dritte Sprache erst lernen müssen, können sich «ihre» Geschichten heraussuchen und erschliessen.
Konkrete Aufgabenstellung
Vorgängig wurden die Bildausschnitte aus dem Buch kopiert. Die kursiv gedruckte Anweisung ist für jene Kinder gedacht, die bereits über gewisse Schriftkompetenzen verfügen.
Arbeitsauftrag: Schweinchengeschichte
- Schaut die Bilder genau an.
- Legt die Bilder so, dass ihr eine Geschichte erzählen könnt. Wo ist der Anfang und wo das Ende?
- Erzählt einander eure Geschichten.
- Schreibt wichtige Wörter oder Sätze auf.
Geschichtenschema