Die Bedeutung der ‹Schlüsselwörter› bei der Texterarbeitung

Die sprachliche Vielfalt innerhalb der Klassen ist in den letzten Jahren zu einem wesentlichen Merkmal unserer Schulen geworden. Eser Davolio (2001) beschreibt dieses Faktum in ihrem Buch ‹Viele Sprachen – eine Schule› so: «Mehr als ein Drittel der Lehrpersonen unterrichtet in ihren Klassen mehr als ein Drittel Kinder und Jugendliche, die Deutsch als Fremdsprache, resp. Zweitsprache erlernen oder erlernt haben. Diese Tatsache führt dazu, dass der Unterricht den neuen Realitäten und Bedürfnissen der Schülerinnen und Schüler angepasst werden muss, damit möglichst viele von ihnen den gewünschten Schulerfolg erreichen.»

von Verena Hartmann

Was bedeutet dies für den Sprachunterricht und was muss in sprachlich heterogenen Klassen insbesondere bei der Erarbeitung eines Textes beachtet werden, damit Schülerinnen und Schüler, die Deutsch als Fremdsprache resp. Zweitsprache erlernen, zu einem optimalen Textverständnis gelangen und im Unterricht sinnvoll mithandeln können?

Wie dringend es ist, auf diese Fragen Antworten zu finden, zeigt uns Yldiz in ihrem Text. Yildiz ist ein neunjähriges, türkisches Mädchen, das nach dem Besuch der Fremdsprachenklasse in eine dritte Regelklasse eingetreten ist.

«Als ich noch nicht lange in der neuen Klasse war, haben wir in einem Buch gelesen, eine Geschichte. Ich habe nicht so viel verstanden, weil schwierig. Die Lehrerin sagte: ‹So, jetzt spielen wir diese Geschichte›. Zu mir: ‹Du spielst den Zuchthäusler.› Ich habe schon Angst und denke: ‹O je, ich muss den Hund spielen und Hundesprache sprechen. Was soll er sagen?› Die Kinder beginnen zu sprechen. Die Lehrerin sagt: ‹So, jetzt sprichst du!› Ich mache wie ein Hund: ‹Hau, hau, hau.› Alle lachen und ganz laut. Vielleicht ich habe dumm gesprochen, nicht richtig wie Hund gemacht. Ein anderes Mädchen sagt: ‹Du musst nicht Hund spielen, du musst Haus suchen, du bist Zuchthäusler!›»

Diese kurze Geschichte zeigt auf, was geschieht, wenn bei der Textarbeit wichtige Begriffe, sog. ‹Schlüsselwörter›, nicht oder nur unzureichend geklärt werden: Yildiz nahm an, dass mit dem Wort ‹Zuchthäusler› ein Hund gemeint sei, ihre Klassenkameradin glaubte, das Wort ‹Zuchthäusler› bedeute eine Person, die Häuser (Wohnungen) sucht. Beide Schülerinnen haben die eigentliche Bedeutung des ‹Schlüsselworts› nicht erfasst, was zur Folge hatte, dass sie keinen Zugang zum Text fanden. Sowohl der Inhalt als auch der Sinn der Geschichte blieben ihnen verschlossen.

 

Was aber sind Schlüsselwörter?

Wie der Schlüssel zum Öffnen und Schliessen eines Schlosses dient, so bedeutet ‹Schlüsselwort›, dass dadurch bzw. damit etwas erreicht oder verstanden werden kann und Zugänge ermöglicht werden. ‹Schlüsselwörter› sind nicht gleichzusetzen mit Wörtern, die zum Grundwortschatz gehören. Sie können nicht einfach vorausgesetzt werden, sondern müssen erläutert und geklärt werden. Sie sind text- und themenspezifisch.

Bei der Texterarbeitung in Klassen mit Schülerinnen und Schülern, die Deutsch als Zweitsprache lernen, sind deshalb folgende Punkte wichtig:

  1. Schlüsselwörter müssen erkannt und geklärt werden.
  2. Den Schülerinnen und Schülern wird bei der Arbeit mit Texten Gelegenheit gegeben, Fragen zu stellen.
  3. Schülerinnen und Schüler sind vertraut im Umgang mit Lexika und Wörterbüchern, auch mit dem Wörterbuch Deutsch als Zweitsprache.
  4. Neue Begriffe werden von den Schülerinnen und Schülern erklärt. (Ein Zuchthäusler ist ein Mann, der in einem Gefängnis eingesperrt gewesen ist).
  5. Es muss überprüft werden, ob und wie Schülerinnen und Schüler den Text verstanden haben.
  6. Motivation ist bekanntlich eine wichtige Voraussetzung für das Lernen. Sie bleibt bei den Schülerinnen und Schülern erhalten, wenn diese im Unterricht viel verstehen, mitreden und mithandeln können.

Ein anderes Beispiel soll verdeutlichen, wie wichtig solche Schlüsselwörter für adäquates Handeln sind. Piphat, ein zehnjähriger Thailänder, erzählte von einem Erlebnis im Verkehrsgarten. Weil ihm die Bedeutung eines Schlüsselworts nicht geläufig war, konnte er eine wichtige mündliche Anweisung nicht verstehen und erst recht nicht die Massnahme, die für ihn ebenfalls unverständlich war und umso ungerechter und schmerzlicher empfunden worden sein musste:

«Mit der Klasse besuchten wir den Verkehrsgarten. Ich war sehr stolz, als mir der Polizist ein richtiges Velo gab. Zuerst durften wir auf der Bahn herumfahren, so wie wir wollten. Ich fuhr sehr schnell, denn ich konnte schon gut fahren. Immer wenn ich beim Polizist vorbeifuhr, rief er: ‹Halten!› Das fand ich sehr komisch, denn er streckte mir nichts zum Halten entgegen. Ich hielt mich deshalb noch fester an der Lenkstange und fuhr weiter. Nach der dritten Runde stoppte mich der Polizist und sagte: ,So, jetzt kannst du das Velo versorgen und ein Tretauto holen, im Verkehr muss man richtig hören können.› Erst am nächsten Tag habe ich von der Lehrerin erfahren, weshalb der Polizist so wütend war. Er hat mich mehrmals zum ‹Halten› aufgefordert. Damit war ‹stoppen› gemeint. Das wusste ich aber nicht, denn in der Schule sagten wir immer stoppenoder Stopmachen. Haltenbedeutete für mich etwas in die Hände nehmen.»

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