Wege entstehen beim Gehen: Textarbeit mit Kindern einer «Fremdsprachenklasse»

Für die Integration ist es wichtig, dass die fremdsprachigen Kinder im Unterricht so rasch als möglich zum «Mitdenken», zur «Mitsprache» und zum «Mithandeln» befähigt werden und ihre Gefühle, Meinungen, Bedürfnisse und Wünsche ausdrücken und verständlich formulieren können.

von Verena Hartmann

In der Primarschule Kleinbasel werden Kinder des zweiten bis vierten Schuljahres, die neu aus dem Ausland zuziehen und noch kein Deutsch sprechen, in einer «Fremdsprachenklasse» unterrichtet. Die Schülerinnen und Schüler stammen aus vielen Ländern und sprechen verschiedene Sprachen und Dialekte. In der «Fremdsprachenklasse» lernen die Kinder Deutsch, sodass sie nach zwei bis drei Semestern in eine Regelklasse übertreten und dem Unterricht folgen können. In den vergangenen Jahren kamen viele Kinder, die zusätzlich die lateinische Schrift erlernen mussten, weil sie in ihrem Herkunftsland arabisch, chinesisch, thailändisch oder kyrillisch geschrieben hatten.

Für die Integration ist es wichtig, dass die fremdsprachigen Kinder im Unterricht so rasch als möglich zum «Mitdenken», zur «Mitsprache» und zum «Mithandeln» befähigt werden und ihre Gefühle, Meinungen, Bedürfnisse und Wünsche ausdrücken und verständlich formulieren können. Voraussetzung dafür sind intensive Wortschatzarbeit und Wortschatzerweiterung, also das Erlernen des Bedeutungsinhalts und des Bedeutungsumfangs der Begriffe.

Am Beispiel der Texte «Wege entstehen beim Gehen» soll dargestellt werden, wie Spracharbeit aufgebaut wird, die zum Ziel hat, dass jedes Kind, unabhängig von seinem Sprachstand in Deutsch, zu einer persönlichen Aussage gelangt und dabei erfährt, dass es etwas Wichtiges mitteilen kann.

Die Arbeit umfasst folgende Schritte:

1. Erkennen von neuen Wörtern
Beim Festhalten der Adressen stellt ein Kind fest, dass manche Kinder an einer Strasse und manche Kinder an einem Weg wohnen. Die Frage taucht auf, was ein Weg ist.

2. Klären der Begriffe «Strasse und Weg»
Die Klärung der Begriffe geschieht über die Zuordnung von Eigenschaften, Vergleichen, Definitionen, Aufzählungen von Tätigkeiten, die auf dem Weg ausgeführt werden.
Beispiele: Der Weg ist lang und eng. Der Weg ist stiller als die Strasse. Der Weg ist ein Stück Erde für alle, auch für Tiere. Die Menschen spazieren auf dem Weg.

 

3. Erweiterung des Begriffs «Weg»
Die Kinder lernen weitere (konkrete) Begriffe kennen und definieren diese selber, zum Beispiel: Der Waldweg führt durch den Wald. Der Schulweg ist der Weg in die Schule. Am Rosenweg wachsen viele Rosen. Der Umweg ist ein Weg hintendurch.

4. Übernahme der neuen Wörter in persönliche Aussagen
Die Kinder wenden die neuen Wörter in eigenen Sätzen an, erzählen einander Erlebnisse, die sie auf einem Weg hatten, oder erinnern sich, wo sie das Wort schon gehört haben, z. B. «Mein Schulweg ist gefährlich, weil so viele Autos.» «Einmal habe ich auf einem Weg Geld gefunden.» «Der Veloweg ist für die Velos.» «Mein Vater ist so weit weg.»

5. Schriftliches Festhalten der Aussagen
Die Kinder schreiben ihre Gedanken, Ideen, Vorstellungen auf. An der Zeichenwand entsteht eine Sammlung der Aussagen, die über längere Zeit, sechs bis acht Wochen, immer wieder mit neuen Texten ergänzt wird. Hie und da erscheint auch eine Zeichnung, ein Kalenderblatt mit einem Wegbild oder die Frage: «Welcher Weg hört nie auf?». Durch die Erweiterung der Sprachkompetenzen wird es möglich, dass einzelne Kinder eine ganze Weg-Geschichte aufschreiben.

6. Sammeln von Erkenntnissen über das Wort «Weg»
Die Kinder halten fest, was ihnen beim Anwenden des Wortes aufgefallen ist: «Wenn man müde ist, ist der Weg länger.» «Der Umweg ist auch ein Weg.» «Mein Bruder heisst Cagdas, das heisst Weggefährte, er hat im Bauch der Mutter den Weg von der Türkei in die Schweiz gemacht.» «Es gibt Wege, die man nicht sehen und auf denen man nicht gehen kann.» «Auf einem Weg kann man vorwärts und rückwärts gehen.» «Einen Weg kann man verlieren.» «Weg kann man gross oder klein schreiben.» «In Chinesisch gibt es viele Wörter für ‹Weg›.» «Unter der Erde sind auch Wege, z. B. für Maus.»

Bei dieser Arbeit konnten die Kinder ihre Kompetenzen in der neuen Sprache «Deutsch» anwenden, ihr Wissen und Verständnis von der Welt einbringen sowie ihre Kreativität entfalten.

  

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