Figuren erfinden – Mantafahrer Norbert
Hier gilt erst recht: Wer seine Schüler und Schülerinnen dazu verleiten will, Geschichten so zu schreiben, dass man sich von diesen Geschichten unterhalten lassen kann, muss genügend Zeit in das Vorbereiten des eigentlichen Schreibens investieren.
von Thomas Lindauer
Thema
Bereits im letzten Rundbrief haben wir danach gefragt, wie man Menschen dazu bringt, anregende, spannende, fantasievolle Geschichten zu erfinden, für die man sich als Leser und Leserin interessiert. Dazu wird auch in diesem Rundschreiben eine Unterrichtsidee vorgestellt.
Geschichten, Erzählungen bestehen vereinfacht gesagt aus vier Elementen: 1. Figuren, 2. Ort der Handlung, 3. Thema, Gesamtidee und 4. Erzählperspektive. In der letzten Schreibidee stand das ‹Thema› im Vordergrund. Heute folgt nun ein Beispiel, das vor allem das Ausgestalten von Figuren fördern soll.
Arbeitsschritte
1. Figuren entwickeln
Sich Figuren für eine Geschichte auszudenken, geht in einer Kleingruppe besser und macht meist auch mehr Spass, als sich allein zum Fabulieren zurückzuziehen. Sich eine Figur so genau vorzustellen, dass man das Gefühl hat, man kenne sie schon seit langem und sei mit dieser Person entsprechend vertraut, braucht Zeit. Die Schüler und Schülerinnen setzen sich erst einmal in 4er- oder 5er-Gruppen zusammen und denken sich nur eine Figur aus. Das kann durchaus eine ganze Lektion füllen, vor allem dann, wenn man sich die Figur auch mit ihrer Biografie und ihrem sozialen Umfeld ausmalen will. Und erst das lässt Figuren zum Leben erwachen.
Um den Schülern und Schülerinnen eine Hilfe zugeben, kann ihnen das unten stehende Raster abgegeben werden, wobei es sich nach meinen Erfahrungen mit erwachsenen Schreibern und Schreiberinnen jedoch nicht als nötig erwiesen hat. So kam ich einmal in eine Gruppe, die sich gerade über einen russischen Preisboxer unterhielt, der sich in ein Nummerngirl verliebt hatte. Als ich das Originelle an dieser Figur lobte, haben mich die Teilnehmenden darüber belehrt, dass das erst der Vater ihrer Figur sei, dass sie aber beim Erfinden immer weiter in die Vergangenheit ihrer Figur vorgestossen seien, weil dies ja alles in gewisser Weise zur Figur gehöre. Mit anderen Worten: Die Schüler und Schülerinnen sollen dazu angehalten werden, Um- und Nebenwege zu gehen, erst dann wird die Figur plastisch und authentisch; erst Neben- und Umwege erhöhen die Ortskenntnis im nötigen Mass. Dazu kann es auch gehören, dass die Figur gezeichnet wird.
Wichtig ist, dass sich die Schüler und Schülerinnen darüber im Klaren sind, dass man sich die Figur möglichst genau vorstellen muss: Wie heisst sie? Wie sieht sie aus? Was isst sie gerne? Welches ist ihre Lieblingsmusik? Wer sind ihre Eltern? Was hat sie bereits alles auf der Welt erlebt? Etc.
2. Figuren präsentieren
Die Schüler und Schülerinnen erhalten für ihre Arbeit zwei weitere Aufträge: 1) Zur erfundenen Figur soll ein Steckbrief verfasst werden. 2) Die Figur soll mündlich der ganzen Klasse vorgestellt werden. Die mündliche Vorstellung hat sich dabei als ausgesprochen wichtig erwiesen. Dadurch erhalten die Figuren für alle Schüler und Schülerinnen die nötige Plastizität: Es wird sichtbar, in welcher Beziehung die Gruppe zu ihrer Figur steht; allein mit dem Steckbrief werden solche empathischen Zwischentöne nicht deutlich. So war nach der Vorstellung von Norbert (Dreitagebart, Hemd aus der Hose, obere Knöpfe offen (Brusthaar sichtbar!), Bundesligafan, Mantafahrer, verheiratet, zwei Kinder etc.) allen klar, dass diese Figur ein eher unsympathischer und bornierter Zeitgenosse ist, auch wenn dies aus dem Steckbrief selbst nicht so direkt herausgelesen werden kann.
3. Ort der Handlung entwickeln
Nachdem alle Figuren vorgestellt und entsprechende Fragen aus dem Plenum beantwortet wurden, kommt der eigentliche Schreibauftrag: Eine Geschichte erfinden und dafür mindestens vier (oder drei oder sogar alle) der Figuren verwenden, wobei nicht alle Figuren gleich stark im Vordergrund stehen müssen. So ist es beispielsweise denkbar, dass Kaki (die 14-jährige Tochter des russischen Preisboxers) von einem roten Manta beinahe überfahren wurde. Damit mit dem Schreiben begonnen werden kann, muss aber jeder für sich selbst einen Ort der Handlung festlegen. Wir können den Schülern und Schülerinnen bei der Festlegung dieses Ortes helfen: Man stelle sich vor, dass sich vier der von der Klasse ausgearbeiteten Figuren im Intercity Zürich–Bern treffen. Besonders spannend ist das noch nicht, aber vielleicht wird’s spannender, wenn sich die vier in einer Berggondel auf den Titlis versammeln – und dann bleibt die Gondel stecken. Man kann aber den Ort der Handlung auch offen lassen, zumal es ja gerade in einer längeren Geschichte mehrere Orte gibt, an denen sich die Handlung abspielt. Denkbar ist auch, dass man den Schülern und Schülerinnen mit folgendem Schema ein Hilfe bei der Ausgestaltung des Ortes bzw. der Orte gibt:
Schreibdidaktischer Kommentar
Das Wertvolle an dieser Schreibaufgabe ist es, dass sich alle Schüler und Schülerinnen bereits mit einer Figur über eine längere Zeit vertraut gemacht haben und ihnen dadurch das Ausdenken einer Geschichte erleichtert wird. Denn beim Ausarbeiten der Figuren entstehen bereits Erzählfragmente, die später verwendet werden können. Das heisst, die Schüler und Schülerinnen entwickeln bereits Textideen, bevor sie mit dem schriftlichen Fixieren des Textes beginnen, sie werden ins Schreiben geführt. Zudem wird durch die Präsentation aller Figuren auch eine gewisse Vertrautheit mit den anderen Figuren geschaffen, was das Geschichtenerfinden wiederum erleichtert und bereichert.
Weiter erleben sie eine zentrale Grundlage fürs Geschichtenerfinden: Die Erzählerin muss mit den in einer Geschichte vorkommenden Figuren so vertraut sein, als könnte sie in diese Menschen hineinsehen, als wüsste sie alles über sie. Davon muss aber nicht alles auch für die Leser und Leserinnen sichtbar werden.
Zudem erhalten sie beim gemeinsamen Figurenerfinden Unterstützung durch ihre Mitschüler und Mitschülerinnen, Schwächere lernen durch die Diskussionen dabei auch Techniken von Stärkeren. Gemeinsam erfahren sie, wie nützlich es fürs Schreiben ist, wenn man bereits ein klare Vorstellung von einer Figur hat. Zudem interessieren sich wohl die meisten für die Texte der anderen: Was haben die wohl aus ‹meiner› Figur gemacht? Damit ist bereits ein fruchtbares Feld für die Präsentation der Texte vorbereitet.