Sprechen und Schreiben fördern – Lernende und Lehrende gemeinsam unterwegs
Sprechen und Schreiben sind zwei Domänen, die sich unter den Begriff «Sprachproduktion» fassen lassen, üblicherweise aber getrennt behandelt werden. In diesem Beitrag beleuchten wir einige ihrer Unterschiede und Gemeinsamkeiten.
von Dieter Isler und Afra Sturm
Sprechen und Schreiben – was haben wir im Blick?
In Klassengesprächen fallen uns Merkmale des Gesprächsprozesses auf: Wir achten darauf, wie sich die Schülerinnen am Gespräch beteiligen, ob ihre Beiträge inhaltlich passen, ob sie korrekt und verständlich sprechen und sich an die vereinbarten Gesprächsregeln halten. Die Gesprächsprodukte sind uns dagegen weniger bewusst (sie werden auch im Lehrplan 21 nur beiläufig berücksichtigt).
In Schreibsituationen rückt dagegen das Textprodukt in den Vordergrund: Da Texte sich i.d.R. an LeserInnen richten, stellt sich v.a. die Frage danach, ob mit einem Text die beabsichtigte Wirkung erzielt wird. Wie Texte entstehen, wie der Textproduktionsprozess verläuft und sich auf das Textprodukt auswirkt – dies ist besonders bei nicht gelungenen Texten zentral –, bleibt dagegen oft im Verborgenen. Dass Schreibprozesse für die Sprachförderung wichtig sind, wird im Lehrplan 21 deutlich unterstrichen.
Neu im Fokus:
Gesprächsprodukte und Schreibprozesse
Sehen wir uns zunächst anhand eines Beispiels an, was Gesprächsprodukte sind: Eine Kindergarten-Lehrerin arbeitet im Kreis mit einem Bilderbuch. In dieser Geschichte diskutieren verschiedene Tiere darüber, welches wohl die wichtigste Eigenschaft sei: Der Igel plädiert für Stacheln, die Giraffe für einen langen Hals und der Frosch für die grüne Farbe. Auf einer ausklappbaren Doppelseite sind jeweils alle Tiere mit einer dieser Eigenschaften dargestellt, z.B. die Giraffe und der Frosch mit Stacheln. Das Bilderbuch spielt mit dem Wechsel zwischen der «Realität» und der «Imagination» der Tiere. Die Kinder sollen den bereits bekannten Teil der Ge schichte nacherzählen. Es bleibt aber nicht bei dieser eher repetitiven Aktivität. Die Lehrerin schlägt eine Brücke zu ihrer realen Lebenswelt: Wenn ihre eigene Katze Stacheln hätte, könnte sie sie nicht mehr streicheln. Lina bestätigt das mit Bezug auf ihre eigenen Kätzchen. Die Lehrerin fragt genauer nach, und Lina berichtet davon, wie die Katzen heissen, und wie sie sich vor dem Hund verstecken. In der nächsten Episode (zur Giraffe mit dem langen Hals) folgt Chichi von sich aus dem Modell der Lehrerin, indem sie berichtet, dass sie ihrem Hasen mit Giraffenhals nicht mehr den Kopf streicheln könnte.
In dieser Sequenz werden verschiedene Gesprächsprodukte hergestellt: eine gemeinsame Nacherzählung sowie drei Berichte aus den Lebenswelten der Lehrerin und der Kinder – teils real, teils imaginiert. Dabei handelt es sich im linguistischen Sinn um mündlich produzierte «Texte». Darunter verstehen wir sprachliche Repräsentationen von situationsexternen (nicht im Hier und Jetzt präsenten) Sachverhalten. Um mündliche Texte zu produzieren, ist eine «konzeptionell schriftliche» Sprache erforderlich, die differenzierter, expliziter und monologischer organisiert ist als im Alltagsgespräch. Texte zu produzieren (und zu verstehen) ist deshalb anforderungsreich. Für die Sprachförderung ist es wichtig, mündliche Texte als Gesprächsprodukte zu erkennen, anzuregen und zu pflegen.
Schreibprozesse haben in der Schreibdidaktik insofern eine längere Tradition, als sie in Planen, Formulieren und Überarbeiten zusammengefasst werden. Aus didaktischer Perspektive ist eine solche Vereinfachung sinnvoll, verstellt aber zugleich den Blick darauf, dass alle drei Phasen wesentlich komplexer sind und mehrere Aktivitäten umfassen, die für sich genommen bereits anspruchsvoll sind. Dies sei in Bezug auf das Planen kurz ausgeführt (mehr dazu im Praxisbeitrag von Sturm/Lindauer): Dazu zählen v.a. das Klären des Schreibauftrags wie auch des Textmusters, das Setzen eines Schreibziels, das Klären oder Erarbeiten von Hintergrundwissen, die Ideengenerierung, das Auswählen von (relevanten) Ideen usw.
Beim Schreiben bzw. im Verlauf eines Textproduktionsprozesses müssen jeweils mehrere Aktivitäten gleichzeitig durchgeführt und auch koordiniert werden: So kann etwa das Generieren einer Idee, das Formulieren und Aufschreiben Hand in Hand gehen. Hinzu kommt, dass sich nicht jede Aktivität gleichermassen günstig auf das zu verfassende Textprodukt auswirkt. So kann sich etwa ein zu starker Fokus auf das Überarbeiten während des ganzen Schreibprozesses negativ auf die Textqualität auswirken. Anders formuliert: Schreiben ist keine einheitliche, singuläre Tätigkeit, sondern ein komplexes Zusammenspiel. Umso mehr gilt es im Hinblick auf eine gelingende Förderung, den Schreibprozess anzuleiten, zu portionieren und durch geeignete Strategien zu unterstützen.
Während also beim Sprechen die Produkte (Textsorten wie Erzählen, Berichten oder Erklären) und ihre Merkmale stärker in den Blick genommen werden sollten, sind es beim Schreiben die Prozesse und ihre Koordination. Damit ist nicht gemeint, dass Gesprächsprozesse und Schreibprodukte weniger wichtig wären: Ziel ist es, in beiden Domänen beide Aspekte für die Sprachförderung zu nutzen, zumal sich Produkte und Prozesse gegenseitig bedingen.
Lernende und Lehrende gemeinsam unterwegs
Im Kindergartenbeispiel kommen die Initiativen zur Textproduktion nicht nur von der Lehrerin: Lina wechselt von sich aus vom dialogischen zum monologischen Sprechen, und Chichi bringt aus eigenem Antrieb einen weiteren Bericht ein. Die Lehrerin hat das Berichten angestossen, unterstützt Lina bei der Konstruktion ihres Beitrags und «hütet» das ursprüngliche Projekt der gemeinsamen Nacherzählung. Diese Kooperation lässt sich auch auf der Ebene des Gesprächsverlaufs beobachten. In Linas Bericht zeigt es, sich auf thematischer (gemeinsames Weiterentwickeln des Themas «meine Katze»), diskursiver (zeitlich koordinierter Wechsel der Beiträge) und sprachlicher Ebene (z.B. durch die Verwendung von Pronomen zur Verknüpfung neuer an vorhergehende Formulierungen).
Mündliche Texte entstehen also im Zusammenspiel von Lehrpersonen und SchülerInnen. Sie sind ein typisches Beispiel für «sustained shared thinking» – das gemeinsame Spinnen eines längeren Gedankenfadens, das für den Erwerb komplexer sprachlich-kognitiver Fähigkeiten eine zentrale Rolle spielt.
Ähnliches gilt für den Bereich Schreiben: Texte richten sich v.a. an andere, d.h., Schreiben stellt zuallererst eine soziale Praxis dar. Das kann sich auch im (schulischen) Textproduktionsprozess niederschlagen: Texte lassen sich kooperativ verfassen; die Wirkung eines Textes kann durch Peer-Feedback überprüft und ein Text an schliessend überarbeitet werden (als sehr lernförderlich zeigen sich Verfahren, in denen die Autorlnnen direkt beobachten können, wie LeserInnen ihre Texte lesen, auf welche Schwierigkeiten sie dabei stossen); und schliesslich können andere beim Schreiben beobachtet werden (hier haben sich v.a. didaktische Verfahren bewährt, die Strategien explizit vermitteln und dabei einen Schreibprozess modellieren, d.h., die gedanklichen Überlegungen während des Schreibens verbalisieren).
Schriftliche Texte entstehen also ebenfalls in einem Zusammenspiel, und zwar von AutorInnen und LeserInnen. überträgt man dies auf das Schulzimmer als eine «Schreib-Community», lassen sich drei Förderstränge herausarbeiten:
a) die kognitive «Meisterlehre» (andere beobachten, Schreibende denken laut beim Schreiben etc.),
b) prozedurale Techniken und Werkzeuge, die den Schreibprozess unterstützen (z.B. Strategien zur Ideenfindung, zur Planung) sowie
c) die aktive Teilnahme aller Beteiligten an der «Schreib-Community».
Ko-Konstruktion: Gemeinsam lernen und lehren
Anspruchsvolle sprachlich-kognitive Fähigkeiten wie das Verfassen mündlicher oder schriftlicher Texte entwickeln sich nicht von selbst nach einem biologischen Plan: Sie müssen langfristig durch Modellierung, Praxis und Reflexion erworben und ausdifferenziert werden. Die Novizinnen sind dabei auf Expertinnen angewiesen, die sie darin unterstützen. Damit diese «soziale Vererbung» gelingt, müssen verschiedene Bedingungen erfüllt sein:
- Die Expertinnen brauchen eine eigene reflektierte Praxis .
- Sie müssen ihre Rolle als Modell und unterstützende Begleitung kennen.
- Das Lehr-Lern-Gespräch muss interaktiv angelegt sein.
- Die Expertinnen müssen Ansätze der Novizinnen erkennen und nutzen.
Diese Bedingungen können an verschiedenen Bildungsorten – in der Familie, Schule oder Freizeit – gegeben oder nicht gegeben sein. Manche SchülerInnen sind zwingend auf schulische Angebote angewiesen.
Im Hinblick auf das gemeinsame Entwickeln mündlicher wie schriftlicher Texte (Ko-Konstruktion) kommt den Lehrpersonen die Rolle von aktiven PartnerInnen der SchülerInnen zu. Durch Lehr– und Lernmaterialien allein können Ko-Konstruktionen kaum gesteuert werden – das Handeln der Lehrpersonen spielt hier eine Schlüsselrolle. Um diese Handlungsfähigkeit zu erwerben, benötigen Lehrpersonen in der Aus- und Weiterbildung sowie im Rahmen der Schulentwicklung Anschauungsmaterial, Wissen, Übung, Reflexion und genügend Lernzeit.