Normen – Bezugsgrössen für Förderplanung und Selektion

Lehren heisst immer auch beurteilen, das heisst wahr­nehmen, wie Lernende handeln, und dieses Handeln in Bezug zu einem Ziel bzw. einer Norm setzen. Normen sind daher für die Beurteilung von Leistung und Lern ­ fortschritten unabdingbar.

von Hansjakob Schneider und Thomas Lindauer

Die Grundfunktion von Beurteilungsnormen ist die des Unterscheidens; so legen sie etwa die Grundlagen für die Unterscheidung zwischen dem Gelernten und dem NichtGelernten bzw. zwischen dem Können und dem Noch-nicht-Können. Sie dienen der Förderung (Wahrnehmung von verschiedenen Entwicklungsstän­den einzelner Schülerinnen und Schüler) und der Selek­tion (Unterscheidung von stärkeren und schwächeren Lernenden).

Die Schule ist eingebunden in gesellschaftliche Vor­stellungen oder Erwartungen an ihren Unterricht und an die Leistungsoutcomes ihrer SchülerInnen (die nie den gesellschaftlichen Erwartungen gerecht zu werden scheinen). Wichtige Normierungsinstrumente sind dabei die Lehrpläne mit ihren Bezugsnormen für die in der Schule zu erwerbenden Wissensbestände und Fähig­keiten. Während Lehrpläne früher eine Mischung aus durchzunehmendem Stoff und stufenspezifischen Leis­tungserwartungen enthielten, ist der Lehrplan 21 haupt­sächlich kompetenzorientiert, das heisst, er legt das er­wartete Können der SchülerInnen stufenspezifisch fest. Allerdings sind diese Normen notwendigerweise ziem­lich pauschal formuliert und bieten für die Beurteilung nur sehr allgemeine Orientierung. So heisst es für den Zyklus 2 im Lehrplan 21 (Deutsch, S.25) unter «Schreib­prozess: Ideen finden und planen»: «... können allein oder in Gruppen verschiedene Schreibideen entwickeln, diese strukturieren und ihren Schreibprozess unter Anleitung planen (z.B. Mindmap, Stichwortliste).» Woran die Lehrperson erkennen soll, wie <gut> eine Schülerin ihren Schreibprozess plant, welche Kompetenzen hier genau zu erreichen sind und woran man diese erkennt, darüber finden sich in einem Lehrplan verständlicher­weise keine Angaben.

Dieses Beispiel verdeutlicht eine wichtige Eigen­schaft von Beurteilungsnormen: Sie können präzise oder weniger präzise formuliert sein. Wenn sie nur diffus be­schrieben sind, sind sie nur eingeschränkt handlungs­leitend. Die allermeisten Fälle der Rechtschreibung sind bspw. präzise geregelt. Sie sind deshalb recht objektiv zu beurteilen. Urteile, die auf solch objektivierten Normen beruhen, geniessen hohe Akzeptanz bei Lehrpersonen, Lernenden und Eltern, gerade weil alle sich mit einem mehr oder weniger gleichen Verständnis darauf beziehen können.

Was ein guter Text ist, ist hingegen weniger klar zu be­stimmen, weil die Vielfalt und Komplexität der verschie­denen Merkmale von Textqualität ein objektiv fundiertes Urteil sehr anspruchsvoll machen. Erschwerend kommt hinzu, dass subjektive Normen die Beurteilung wesent­lich beeinflussen: Nicht alle Leserinnen und Leser (und auch nicht alle Lehrpersonen) beurteilen die gleichen Textpassagen als gelungen bzw. als originell, spannend oder witzig.

So zeigt sich am Kontrast der Beurteilung von Recht­schreibung und Attraktivität von Texten, wie klare Normen die Beurteilung erleichtern können. Es zeigt sich aber auch, dass objektivierte Normen nicht alles in den Blick nehmen können, was fürs Lernen und Können re­levant ist: Ein guter Text ist ja nicht vor allem objektiv korrekt, sondern weist Qualitäten auf, die nur schwer, oder gar nicht zu objektivieren sind. In objektiven Nor­men liegt daher auch immer wieder die Gefahr, dass sie stärker als andere gewichtet werden. So fokussieren viele Lehrpersonen verständlicherweise die präzis defi­nierten Normen von Rechtschreibung oder Grammatik bei der Beurteilung von Texten deutlich stärker als die weniger klar umrissenen Merkmale von Stil oder Origi­nalität. Kritisch zu hinterfragen ist daher immer wieder, ob die objektivierbareren Bereiche der Beurteilung auch diejenigen sind, die für die Entwicklung des sprachli­chen Lernens die besonders wichtigen sind.

Unterscheiden muss man aber nicht nur zwischen klaren und diffusen Normen, sondern auch zwischen expli­ziten und impliziten Normen. Je expliziter eine Beurtei­lungsnorm ist, desto objektiver kann eine Beurteilung vorgenommen, beschrieben und kommuniziert werden; implizite Normen bieten ihrerseits keine verlässliche Orientierung fürs Lernen.

Implizite Normen, die die Beurteilung besonders stark prägen, sind die Normen der so genannt schuli­schen Bildungssprache. Mit «Bildungssprache» ist eine Sprachform gemeint, die Elemente von Wissenschafts-­ und Schriftsprache trägt, die aber auch in nicht direkt wissenschaftlichen und auch in mündlichen Situationen verwendet wird, um verdichtete, kognitiv anspruchsvol­le Informationen zu vermitteln. Sie zeichnet sich durch unpersönliche Ausdrücke, spezifischen Wortschatz, die Verwendung von Konjunktiv, Substantivierungen u.a. aus. Diese Häufung von wenig alltagssprachlichen Elementen hat ihren Ursprung in typischen Sprachhandlungen, die in bildungssprachlichen zusammenhängen be­sonders zentral sind, nämlich bspw. Erklären, Diskutie­ren, Argumentieren oder Verallgemeinern (Feilke 2012). Diese Funktionen ziehen bestimmte bildungssprachliche Ausdrucksformen nach sich, bspw. den Gebrauch von unpersönlichen Elementen als Zeichen dafür, Subjektives bei einer objektiven Diskussion von Sachverhalten zu vermeiden.

Bildungssprache nimmt zurecht einen wichtigen Platz im sprachlichen Alltag der Schule ein: Das Vermit­teln von komplexen Sachverhalten setzt die Verwendung einer angemessen differenzierten Sprachform voraus. Problematisch im schulischen Zusammenhang ist al­lerdings, dass diese Sprachform in der Regel eingesetzt und als Norm vorausgesetzt wird, ohne dass sie the­matisiert, vermittelt oder geübt wird. Dies führt dazu, dass Kinder aus Familien, in denen bildungssprachlich orientierte Kommunikation eher nicht die Regel ist, in der Schule systematisch benachteiligt werden, weil für den Schulerfolg wichtige Elemente vorausgesetzt und nicht unterrichtet werden (Ditton 2004). Auf diese Weise wird die schulische Bildungssprache, die eigentlich auch dem Lernen dienen sollte, zur sozialen Norm, zu einer Art Barriere, die auf subtile Weise eine Unterscheidung zwischen bildungsnahen und bildungsfernen SchülerIn­nen herstellt. Sie wirkt so als verstecktes Selektionskri­terium.

Normen sollen aber nicht nur der Selektion dienen, sondern auch das Lernen unterstützen. Dies ist dann der Fall, wenn SchülerInnen an ihren eigenen Leistungen ge­messen werden, wenn also Lernentwicklungen anhand der Orientierung am individuellen Entwicklungsstand geplant, überprüft und angepasst werden. Beurteilungs­normen haben in diesem Zusammenhang zwangsläufig transitorischen bzw. <Durchgangs>-Charakter: Förder­orientierte Beurteilung misst nicht mit den gesell­schaftlich geforderten sprachlichen oder literarischen Normen, sondern mit transitorischen Normen, die sich auf Entwicklungsstände beziehen und die mit jedem Lernschritt durch neue transitorische Normen ersetzt werden. Formative Beurteilungen beziehen sich also nicht auf endgültige Normen (z.B. die Beherrschung der gesamten Rechtschreibung), sondern auf die angeziel­te transitorische Norm (z.B. die lautgetreue Schreibung und die GrossSchreibung von konkreten Nomen und von Wörtern am Satzanfang). Solches Beurteilen fordert von Lehrpersonen viel Aufmerksamkeit, Einsicht in ange­messene Leistungserwartungen und auch den Mut, Fehlleistungen unkorrigiert zu lassen, wenn sie ausserhalb der geforderten transitorischen Norm liegen.

Normen dienen also der Förderung und der Selektion. Da der primäre Auftrag der Schule aber die Förderung ist (und sich die Selektion erst sekundär ergibt), wünschen wir uns die vermehrte Anwendung von transitorischen Normen in der Förderplanung. Wir plädieren für einen Unterricht, der die zu erreichenden Normen den Lernständen anpasst, sie transparent macht, die Schülerin­nen und Schüler beim Erreichen solcher Normen untestützt und der sich bei der Beurteilung von Leistungen auch hauptsächlich auf diese Normen bezieht .

 

Literatur

  • Deutschschweizer Erziehungsdirektoren-Konferenz (2013): Lehrplan 21. Deutsch. Konsultationsfassung vom Juni 2013. Luzern: D-EDK.
  • Ditton, Hartmut (2004): Der Beitrag von Schule und Lehrern zur Reproduktion von Bildungsungleichheit. In: Becker, Rolf und Lauterbach, Wolfgang (Hrsg.): Bil­dung als Privileg? Erklärungen und Befunde zu den Ursachen der Bildungsungleichheit. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S.251- 279.
  • Feilke, Helmuth (2012 ): Bildungssprachliche Kompe­tenzen – fördern und entwickeln. In: Praxis Deutsch 233, S.4-13.

Schreiben wirksam fördern. Lernarrangements und Unterrichtsentwicklung für alle Stufen

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Multiple Dokumente verstehen und verarbeiten: Anforderungen und Förderansätze

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