Durchgängige Sprachförderung im Praxisfeld weiterentwickeln – Übergänge im Fokus
Auf der Basis von zwei Projekten, die im QUIMS-Programm angesiedelt sind, zeigen wir exemplarisch auf, wie im Praxisfeld auf eine durchgängige Sprachförderung hingearbeitet werden kann. Dazu nehmen wir zwei Schnittstellen in den Blick: vom Frühbereich in den Kindergarten und von der Mittel- in die Oberstufe.
von Dieter Isler und Afra Sturm
Ende Sekundarstufe I sind es je nach Studie (z.B. PISA oder DESI) zwischen 10 und 25 % der Jugendlichen, die nicht über ausreichende Lese- oder Schreibkompetenzen verfügen. In der Nachfolge von PISA haben verschiedene Studien aufgezeigt, dass bspw. eine Förderung basaler Lesefertigkeiten über die Unter – bzw. Mittelstufe hinweg sinnvoll und auch notwendig ist; umgekehrt sollte die Vermittlung von Lesestrategien spätestens auf der Mittelstufe einsetzen. Gleichzeitig haben in den Domänen Lesen und Schreiben zahlreiche Studien belegt, dass eine explizite Vermittlung von Lese– und Schreibstrategien ein sehr wirksamer Förderansatz ist. In Bezug auf die Domäne Schreiben fehlen jedoch empirische Hinweise darauf, wie etwa die explizite Vermittlung von Schreibstrategien curricular eingebettet werden kann. Aus einer englischen Längsschnittstudie (Sylva et al. 2014) ist darüber hinaus bekannt, dass die Qualität von pädagogischen Einrichtungen beginnend in der Vorschule über die Primar- bis zur Sekundarschule signifikant mit den Leistungen der Schülerinnen und Schüler in Sprache und Mathematik zusammenhängt. Das Bildungssystem kann also dazu beitragen, die Bildungschancen sozial benachteiligter Kinder und Jugendlicher nachhaltig zu verbessern. Voraussetzungen dafür sind aber ein früher Beginn, eine hohe Qualität und eine ungebrochene Kontinuität der Förderung vom Frühbereich bis in die Sekundarschule.
Während also auf der einen Seite die Notwendigkeit einer kontinuierlichen Sprachförderung über die verschiedenen Stufen hinweg mittlerweile unbestritten sein dürfte – darauf verweisen auch bildungspolitische Initiativen wie die «Strategie Sprachförderung» durch die Bildungsdirektion Kanton Zürich oder die Bund-Länder-Initiative zur Sprachförderung in Deutschland –, ist auf der anderen Seite erst noch zu klären, wie eine durchgängige Sprachförderung erreicht werden kann. Auf der Basis von zwei Projekten, die im QUIMS-Programm angesiedelt sind, zeigen wir exemplarisch auf, wie im Praxisfeld auf eine durchgängige Sprachförderung hingearbeitet werden kann. Dazu nehmen wir zwei Schnittstellen in den Blick: vom Frühbereich in den Kindergarten und von der Mittel- in die Oberstufe. Für beide Übergänge skizzieren wir die Problemfelder und den entsprechenden Entwicklungsbedarf, der auch erste Wege für die Weiterentwicklung im Praxisfeld aufzeigt. In den Praxisbeilagen 1 und 2 werden die beiden Beispiele weiter konkretisiert.
Erster Fokus: Vom Frühbereich in den Kindergarten
Sprachförderung wird heute im Frühbereich einheitlich als «alltagsintegriert» verstanden: Sprachliche Fähigkeiten werden im Rahmen von Gesprächen, die im all täglichen Zusammenleben oder in der Auseinandersetzung mit interessanten Sachthemen entstehen, quasi beiläufig erworben und gefördert. Diese situations– und handlungsorientierte Sprachförderung ist auch im Kindergarten traditionell stark verankert. Im Kielwasser der ersten PISA–Studien sind aber auch Trainingsprogramme (z.B. zur phonologischen Bewusstheit) und Messinstrumente (z.B . zum deutschen Wortschatz) in die Kindergartenpraxis eingeflossen, und mit dem Lehrplan 21 wird die Fachorientierung in den ersten zwei Bildungsjahren weiter verstärkt. Zudem ist heute unbestritten, dass bereits der Kindergarten allen Kindern Erfahrungen im Umgang mit Schrift und digitalen Medien ermöglichen sollte. Es lässt sich also sagen, dass im Frühbereich eine alltagsintegrierte Sprachförderung im Zentrum steht, die auch im Kindergarten verankert ist, dort aber durch curricular vorstrukturierte Ansätze (durch Trainingsprogramme u.a.) ergänzt wird.
Aus sprachdidaktischer Sicht erscheint diese Schnitt stelle zunächst unproblematisch: Es ist sinnvoll, die alltagsintegrierte Sprachförderung des Frühbereichs im Kindergarten weiterzuführen und im Hinblick auf die Unterstufe mit curricularen Ansätzen anzureichern. Zu fragen ist aber auch nach der Qualität der alltagsintegrierten Sprachförderung. Wie aktuelle Studien zeigen, bestehen deutliche zusammenhänge zwischen dem Handeln pädagogischer Fachpersonen in Alltagsgesprächen und den sprachlichen Lernfortschritten der Kinder – insbesondere wenn diese sprachlich und sozial benachteiligt sind. Dabei spielen Merkmale der Interaktionsqualität (z.B. Rahmung und Steuerung, Adaptivität, Elaborationsimpulse, Verständnissicherung) und das gemeinsame Spinnen längerer Gedankenfäden («sustained shared thinking» bzw. die Ko-Konstruktion mündlicher Texte) eine zentrale Rolle. Gerade diese anforderungsreichen Sprachhandlungen sind aber im Alltag von Spielgruppen, Kitas und Kindergärten bisher noch selten anzutreffen . Deshalb – und weil mündliche Texte wie Berichte, Erzählungen, Erklärungen oder Argumentationen wichtige Grundlagen für das Verfassen schriftlicher Texte schaffen – zeigt sich bezüglich der Qualität der alltagsintegrierten Sprachförderung ein dringlicher gemeinsamer Entwicklungsbedarf von Frühbereich und Kindergarten. Wie hier im Rahmen des OUIMS –Projekts «Frühe Sprachbildung entwickeln» konkret angesetzt wird, ist in Praxisbeilage 1 beschrieben.
Zweiter Fokus: Von der Mittel- in die Oberstufe
Der Übergang von der Mittel– in die Oberstufe ist in der Domäne Schreiben durch zunehmend hohe Anforderungen geprägt. Gleichzeitig kann beobachtet werden, dass Schreiben als kommunikatives Handeln, das auf der Unterstufe noch eher grösseren Raum einnimmt, zunehmend aus dem Blick gerät: Auf der Mittelstufe wird das Schreiben mehr und mehr durch das Einhalten von Regeln und Normen geformt; und auf der Oberstufe stellt für die SchülerInnen Schreiben hauptsächlich ein Werk zeug dar, um Wissen zu zeigen (Boscolo 2012).
Schreiben als kommunikatives Handeln ist nun gerade besonders anforderungsreich: Mit einem Text LeserInnen von etwas zu überzeugen, sie über etwas zu in formieren, sie sachkundig zu machen, sie zu etwas an zuleiten, für sie etwas zu dokumentieren – das alles sind wichtige Schreibhandlungen, die oftmals komplex sind und deshalb auch viel Anleitung und Übung erfordern. Die zu Beginn erwähnte Leistungsstudie DESI zeigt denn auch, dass es vielen Jugendlichen schwerfällt, einen Beschwerdebrief so zu verfassen, dass er seine kommunikative Absicht erfüllen kann, sei es, weil der Text nicht logisch aufgebaut ist oder für die LeserInnen relevante Informationen fehlen.
Hinzu kommt, dass dem Schreiben als kommunikatives Handeln, als eine soziale Praxis, für den Aufbau von Schreibmotivation eine zentrale Funktion zukommt: Im schulischen Verlauf ist die Schreibmotivation gesamthaft gesehen jedoch rückläufig und erholt sich auch nicht im Übergang von der Mittel- in die Oberstufe. Ein wichtiger Grund für den Rückgang wird in der gleich zeitigen Abnahme von Schreiben als soziale Praxis im Schreibunterricht gesehen.
Im Hinblick auf eine durchgängige Förderung stellt sich damit die Frage, wie Schreiben als kommunikatives Handeln auch auf Mittel– und vor allem Sekundarstufe gestärkt werden kann, und zwar so, dass ein systematischer Aufbau möglich ist. Im Projekt «Schreiben auf allen Schulstufen», das im Rahmen von QUIMS durch geführt wird, kommt sog. Musteraufgaben eine wichtige Brückenfunktion zu: Sie zeigen u.a. auf, welches didaktische Handlungsmuster zur Förderung von Schreiben als kommunikatives Handeln zentral ist und wie sich dies in stufengerechten Aufgaben umsetzen lässt. Solche Musteraufgaben konkurrenzieren damit nicht die vorhandenen Lehrmittel, sondern stellen eine Ergänzung dar. Viel wichtiger noch: Musteraufgaben sind keine Selbstläufer. Um sie nicht nur in einer einzelnen Klasse anwenden, sondern als Element auch einer übergreifenden Schreibkultur einsetzen zu können, braucht es ein Zusammenspiel von Unterrichts- und Schulentwicklung, das in der Praxisbeilage 2 ausgeführt wird.
Ausblick
Diese Überlegungen machen deutlich, dass im Hinblick auf eine durchgängige Sprachförderung vom Frühbereich bis zur Sekundarstufe I ein deutlicher Handlungsbedarf besteht. Für eine nachhaltige und koordinierte Weiterentwicklung der Sprachförderung ist die kollegiale Zusammenarbeit der pädagogischen Fachpersonen unverzichtbar: Dieses anspruchsvolle Ziel lässt sich nur durch eine gemeinsame und kontinuierliche Entwicklung und Reflexion der eigenen Praxis im Schulteam erreichen. Zudem ist es zwingend notwendig, dass Wissenschaft und Praxis diese Aufgabe gemeinsam angehen – im Austausch von Konzepten und Erfahrungen sowie in einer verbindlichen Zusammenarbeit auf Augenhöhe. Im Projekt QUIMS versuchen wir, diesen Anforderungen gerecht zu werden. Lesen Sie in den beiden Praxisbei lagen nach, wie wir dabei konkret vorgehen.
Literatur
Boscolo, P. (2012 ). Teacher –Based Writing Research. In: V.W. Berninger (Hrsg.), Past, Present, and Future Contributions of Cognitive Writing Research to Cognitive Psychology (S. 61-86). New York/London: Psychology Press.
Sylva, K., Melhuish, E., Sammons, P., Siraj, I. & Taggart, B. (2014). Students‘ educational and developmental outcomes at age 16. Effective Pre-school, Primary and Secondary Education (EPPSE 3-16) Project. London: DfEE / Institute of Education, University of London.