Buch des Monats Februar 2016
Ingeborg Kringeland Hald: Vielleicht dürfen wir bleiben
Albin ist elf Jahre alt und lebt mit seiner Mutter und seinen beiden jüngeren Zwillingsschwestern in einem sicheren Land. Doch das war nicht immer so. Bruchstücke aus seiner Erinnerung holen ihn immer wieder ein. Dann denkt Albin daran, wie es vor fünf Jahren war, als seine Familie aus Bosnien fliehen musste. An Soldaten, die an die Tür pochen und das Haus stürmen, an Schüsse, an den tagelangen Marsch durch den Wald, an Hunger und Durst. Nun sollen sie in die alte Heimat zurückgeschickt werden. Das möchte Albin mit aller Kraft verhindern und flieht erneut. Allein. Er steigt in einen Bus, in dem der Fahrer so verdächtig lächelt, dass Albin sicher ist, dass er gleich die Türen verriegeln und die Polizei rufen wird. Doch nichts geschieht und ganz unbefangen dreht sich das jüngerer der zwei vor ihm sitzenden Mädchen um. Fröhlich plappert es los und erzählt, dass sie und ihre Schwester auf dem Weg zu den Grosseltern sind. Als die beiden schliesslich aussteigen, zögert Albin nur einen kurzen Augenblick – dann springt auch er aus dem Bus und versteckt sich im Auto der Grosseltern. Ganz still, unter einer Decke im Kofferraum, liegt er da. Beim Ferienhaus angekommen schleicht Albin um das entlegene Ferienhaus der Grosseltern. Eine verlassene Ferienhütte im Wald gleich nebenan bietet ihm ein recht sicheres Versteck. Trotzdem zittert er jede Nacht unter der Decke. Früher oder später ahnen die Mädchen, dass Albin sich in ihrer Nähe versteckt, dass er Hunger und Durst hat. Ob der rettende warme Kakao und die Brötchen extra für Albin hingestellt wurden oder Teil eines Spiels für die Mädchen waren, ist nicht sicher. Doch sicher ist, dass Albin irgendwann entdeckt wird, in den Grosseltern und den Mädchen guten Menschen begegnet und am Ende noch eine Chance bekommt. Denn vielleicht, vielleicht dürfen er und seine Familie doch bleiben.
Die norwegische Autorin erzählt in ihrem Debüt zwei eng miteinander verwobene Fluchtgeschichten – direkt aus Albins Perspektive. Auf diese Weise sind die Lesenden ganz nah dran an Albins Weltsicht, an seinem Misstrauen, seiner Furcht und seiner Einsamkeit. So schwer zu verkraften die Szenen aus Albins Erinnerung an die erste Flucht teilweise sind, so sehr helfen sie, Albin zu verstehen. Auch Kindern, denen dieses Schicksal fremd ist. Die Geschichte ist gerade durch ihre schlichte Sprache unglaublich berührend und bietet mit diesem aktuellen Thema viel Stoff für Diskussionen. Das schmale Buch mit seinen kurzen Kapiteln eignet sich für jugendliche Leserinnen und Leser ab elf Jahren genauso wie für Erwachsene.
Ingeborg Kringeland Hald: Vielleicht dürfen wir bleiben. Aus dem Norwegischen von Heike Dörries. Carlsen 2015. ISBN: 978-3-551-55597-7
Rezension: Franziska Weber