Julia Willmann: Ganz oben fliegt Lili

Frisch aus dem Ei geschlüpft – inmitten einer Vergissmeinnichtpflanze, auf einer Fensterbank in einem kleinen Haus – sieht Lili Berge. Grosse mächtige Berge mit schneebedeckten Gipfeln. Sie sieht sie nicht wirklich, also irgendwie schon, aber nicht mit ihren Augen, sondern in ihrem Fliegenherz. Sie weiss, da gehört sie hin! Sie fliegt voller Tatendrang los und knallt kopfvoran in die Fensterscheibe. Um sie herum wird es erstmal schwarz und als sie wieder aufwacht, fehlt ihr der Buchstabe «L». Zum Glück ist Lili – oder besser ii, wie sie jetzt eben heisst, so ganz ohne «L» – weiter nichts passiert. Da entdeckt sie in der Ecke des Wohnzimmers einen grossen Käfig. Drin sitzt Ludwig, ein Steinkauz. Als sie ihm von ihren Reiseplänen erzählt, macht dieser noch grössere Augen, als er sowieso schon hat. Diese kleine Fliege will ganz alleine quer durch das ganze Land in die Alpen fliegen – das schafft die doch nie, die kommt nicht mal aus diesem Haus hinaus! Aber nicht nur in diesem Punkt täuscht sich Ludwig gewaltig: Schon bald ist ii unterwegs, ihr innerer Kompass weiss genau, wohin sie fliegen muss. Unterwegs trifft sie Knorrte, einen fünfbeinigen Käfer, der ihr ein Reisetagebuch schenkt und dem sie verspricht, von ihrer Reise zu berichten. So fliegt ii mal alleine, mal gemeinsam mit anderen Insekten Richtung Alpen – meistens zumindest. Manchmal macht ihr der Wind einen Strich durch die Rechnung oder ein Gewitter muss abgewartet werden. Sogar mit dem Zug reist ii eine Weile, in Gesellschaft einer Truppe angesäuselter Fruchtfliegen. In einer grossen Stadt bleibt ii eine Weile hängen, denn da trifft sie echte Freunde, aber schon bald spürt sie in ihrem Fliegenherz wieder den Ruf der Berge – und ii folgt ihm. Dass sie angekommen ist, erfährt Knorrte, als ihm die Ameisenpost ein dickes Paket und eine Karte liefert – auf der Karte sind schneebedeckte Berge zu sehen.

Dieses wunderbare Buch übertrifft so manche Ansprüche, die man an ein Kinderbuch haben kann: Julia Willmann erzählt Lilis fantastische Reise mit unglaublicher Sprachgewandtheit – ihr gelingt es, Sprache und Geschichte so miteinander zu verbinden, dass ein grossartiges Ganzes daraus entsteht. Die fantasievollen, kräftigen Bilder von Alexandra Junge leisten ihren eigenen Beitrag dazu. Ab der ersten Seite wächst einem diese mutige Fliege ans Herz und man fiebert mit, ob sie es tatsächlich bis in die Alpen schaffen wird. Ganz nebenbei lernt man beim Lesen viel Wissenswertes über Schwebfliegen, das auch manchen erwachsenen Vorleser:innen zuvor nicht bekannt gewesen sein dürfte. Dieses Buch soll Eltern, Grosseltern, Lehrpersonen, überhaupt allen ans Herz gelegt werden, die Kindern gerne vorlesen und die sich die wunderbar gestalteten Sätze auf der Zunge zergehen lassen wollen. Zum Vorlesen für Kinder ab 8 Jahren. Für geübte Leser:innen ab ca. 10 Jahren.

Julia Willmann: Ganz oben fliegt Lili. Peter Hammer Verlag, 2023. ISBN: 978-3-7795-0700-0

Rezension: Sara Grunauer