Buch des Monats September 2023
Anne Becker: Luftmaschentage
Matea gehört zu jener Sorte Mädchen, die in der Öffentlichkeit kaum sprechen, denen vor andern jedes Wort im Hals stecken bleibt. Weil Matea diese Geschichte selber erzählt, kann sie sehr treffend beschreiben, wie sich das anfühlt: Es ist, als sässe eine grosse Krake in ihrem Bauch. Sobald Matea sich äussern muss oder mit Unbekanntem konfrontiert wird, verlässt diese «Madame Krake» ihr Sofa und wirbelt wie verrückt in Mateas Bauch herum. Ist Matea daheim, dann hockt «Madame Krake» gemütlich und ruhig auf ihrem Sofa, da traut sich Matea zu reden, da wehrt sie sich für ihre Bedürfnisse. Komischerweise ist das auch so, als Matea zum ersten Mal Riccarda begegnet. Riccarda ist die neue Schülerin, die in seltsamen Klamotten daherkommt, über ein lautes Mundwerk verfügt und die schon bald von allen andern in der Klasse eher gemieden, manchmal sogar gemobbt wird. Riccarda wird für Matea bald zur engen Freundin. Sie kommt häufig zu Besuch und Matea bringt ihr nicht nur das Häkeln bei, sondern hilft ihr auch bei den Hausaufgaben. Gemeinsam planen sie eine ziemlich verrückte Häkelaktion: Auf dem Schulhausbrunnen steht eine Statue mit zwei Jungen aus Stein. Für diese Jungen wollen die beiden Mädchenkleider häkeln. Trotz der grossen Zuneigung zu ihrer neuen Freundin spürt Matea aber auch, dass Riccarda ein Geheimnis mit sich herumträgt: Niemals spricht sie über ihre Familie, und wenn Matea sie zuhause besuchen möchte, blockt Riccarda sofort ab. Zudem wird sie offenbar von einem schielenden Mann verfolgt, der bei ihr grosse Panik auslöst. Es ist kurz nach ihrer «Guerilla-Häkelaktion» als Riccardas Geheimnis aufbricht. Sofort verkriecht sich Riccarda und lässt sich nicht mehr blicken, so sehr schämt sie sich. Die Freundschaft der beiden droht zu zerbrechen, aber Matea gibt nicht auf. Sie unternimmt alles, um Riccarda aus ihrer Isolation zu holen, sie hat Riccarda in ihr Herz geschlossen und will für ihre Freundin da sein.
Die Autorin weiss, wie junge Mädchen ticken, wie es in Schulklassen zu und her gehen kann. Durch die feinfühlige Schreibart werden die Charaktere der beiden Mädchen und ihre so unterschiedliche Herkunft wunderbar treffend beschrieben. Als Leser:in wird man an die Hand genommen und sieht die leicht punkig daherkommende Riccarda vor sich und versteckt sich mit der stummen Matea auf dem Baum, wenn der Schulmeister wütend dahergeschlurft kommt. Matea hätte eigentlich sehr viel zu sagen, auch wenn sie andern gegenüber stumm bleibt. Riccarda wiederum ist mutig, streitlustig und forsch, in gewissen Situationen kann sie sich aber weder wehren noch sich anderen gegenüber öffnen und weicht daher aus. Der Roman ist fein gehäkelt und schildert einfühlsam, wie Menschen oft anders sind, als sie von aussen scheinen. Ein berührendes, spannendes, durchaus auch humorvolles Buch, dem man viele Lesende ab etwa 12 Jahren wünscht.
Anne Becker: Luftmaschentage. Beltz 2023. ISBN: 978-3-407-75759-3
Rezension: Maria Riss