Christopher Paul Curtis: Die Watsons fahren nach Birmingham – 1963
Die Geschichte spielt im Winter 1963 in Michigan. Der zehnjährige Kenneth ist ein sehr kluges, nachdenkliches Kind, das gern und viel beobachtet. In der Schule ist Kenneth meist allein, die Kinder lachen ihn aus, weil er schielt, gerne liest und alle Lehrer:innen ihn mögen. Seine kleine Schwester Joetta ist der Sonnenschein der Familie. Meist dreht sich aber alles um den älteren Bruder Byron, der in schier jeder Beziehung das exakte Gegenteil von Kenneth ist. Byron ist stark, gross, bei allen beliebt, frech und macht andren mit seinen Tricks und Streichen sehr oft das Leben schwer. Die Eltern müssen zu immer härteren Erziehungsmassnahmen greifen, aber weder die Schläge von Dad noch die wirklich unbarmherzigen Strafen von Momma zeigen Wirkung. Momma erinnert sich an ihre eigene Kindheit in Alabama, wie streng ihre Mutter war und wie stark ihre Durchsetzungskraft. In ihrer Verzweiflung beschliessen die Eltern, dass nun wohl nur noch das Strafgericht der Grossmutter aus Birmingham in Alabama helfen kann. Byron soll ein halbes Jahr dort verbringen und endlich lernen zu gehorchen. Dad bringt sein uraltes Auto zum Glänzen und Momma packt diese alte Kiste bis unters Dach voll mit Lebensmitteln. Bis hierhin war es für niemanden ein Problem, dass Kenneth Familie schwarz ist. Nun in Alabama ändert sich dies schlagartig. Die Kinder sehen nicht nur zum ersten Mal die Berge und das Meer, sie erfahren auch, wie gegenwärtig der Hass gegen Schwarze in den Südstaaten immer noch ist. Nur durch Zufall entgeht die Familie einem rassistisch orientierten Attentat auf eine Sonntagsschule. Wie liebevoll und voller Anteilnahme sich die Familienmitglieder danach gegenseitig helfen, mit diesem traumatischen Erlebnis umzugehen, ist berührend und wunderschön nachzulesen.
Der etwa 10-jährige Kenneth erzählt diese turbulente, eindrückliche Geschichte aus seiner Perspektive. Weil er nicht nur ein guter Beobachter ist, sondern auch gut schreiben kann, sind seine Aufzeichnungen sehr präzise und oft mit bissigem Humor versetzt. Im Zentrum seiner Erzählung steht seine Familie mit ihren so unterschiedlichen Charakteren: Dad kann ein richtiger Kindskopf sein, Witze reissen, gleichzeitig versucht er endlich ein strengerer Vater zu werden. Momma regt sich schnell auf, ist sehr temperamentvoll, sie kann laut schimpfen und kümmert sich mit liebevoller Hingabe um alle und alles. Jottea ist sensibel und immer darauf bedacht, den Streit in der Familie zu schlichten. Byron ist frech, kann ohne schlechtes Gewissen lügen, kann andere mit seinen Provokationen zur Weissglut bringen, hilft aber seinem kleinen Bruder, egal, was passiert und versteht ihn besser als alle andern.
Christopher Paul Curtis verknüpft eine wunderschöne Familiengeschichte mit wahren Fakten. Es gab in Alabama 1963 tatsächlich einen Bombenanschlag, bei dem vier kleine schwarze Mädchen ums Leben kamen. Der Autor erzählt behutsam und eindringlich von diesen schrecklichen Ereignissen. Das Buch erschien erstmals vor 30 Jahren und wurde mit dem Jugendliteraturpreis ausgezeichnet. Die vorliegende Neuauflage enthält Nachworte von bedeutenden Autorinnen und Autoren wie Jacqueline Woodson, Kate DiCamillo, Varian Johnson und Jason Reynolds. Alle haben in ihren Texten einen ähnlichen Tenor: Das Thema Rassismus ist leider immer noch äusserts aktuell und diese Geschichte kann Mut machen, sich dagegen aufzulehnen. Ein wichtiges Buch für Lesende ab 12 Jahren. 232 Seiten.
Christopher Paul Curtis: Die Watsons fahren nach Birmingham – 1963. Deutsch von Gabriele Haefs. dtv, Neuauflage 2024. ISBN: 978-3-423-64116-6
Rezension: Maria Riss