Enne Kones: Von hier aus kann man die ganze Welt sehen

Alles beginnt mit einem Brief, den die etwa neunjährige Dee am Boden vor dem Briefkasten in der Nähe ihres Wohnblocks entdeckt. Das Couvert ist hellblau, die Empfängeradresse ist mit schwarzem Stift durchgestrichen, der Absender unleserlich. Dee kann nicht widerstehen, sie nimmt den Brief mit hoch in ihre Wohnung und öffnet ihn. Da stehen liebevolle Sätze drin, da vermisst jemand eine andere Person, bittet um Vergebung und hofft auf ein Wiedersehen, nur die Unterschrift ist nicht zu entziffern. Dieser Brief und sein Geheimnis lassen Dee nicht mehr los. Sie will herausfinden, an wen der Brief geschrieben wurde und beginnt, die Nachbarn zu befragen, ob sie jemanden vermissen. Dee spricht die Leute so direkt, mutig und eindringlich an, dass viele ihr kleine Geheimnisse oder gar ihre Lebensgeschichten anvertrauen. Es ist gut, dass ihr Freund Vito ihr dabei zur Seite steht und dass Vitos lebenslustige Mama immer einen Platz für Dee am Familientisch bereit hält. Dees eigene Mama kümmert sich zwar gut um ihre Tochter, spricht aber nicht viel und auf die brennende Frage von Dee, wer ihr Vater sei und wie sie damals zur Welt kam, darauf gibt es nie eine Antwort. Dee, mit ihrem lockigen Haar und der dunklen Haut, ähnelt ihrer Mutter nämlich gar nicht. Es gibt in der ganzen Wohnung nur ein Foto, auf dem Dee als Baby abgebildet ist. Für Dee ist klar, sie wurde adoptiert oder vielleicht gar geraubt, und irgendwo auf der Welt laufen ihre echten Eltern herum. Erst ganz langsam und mithilfe von Eli, einer betagten Nachbarin, erfährt Dee Neues über ihre eigene Herkunft. Jetzt wird ihr auch klar, an wen dieser rätselhafte Brief adressiert war. Unter der schwarzen Tinte erkennt sie den Namen ihrer Mutter. Es ist Dee, die ihre Mutter schliesslich zum Reden bringt und die ihr damit so viel Erleichterung verschafft. Und Dee erfährt endlich, ganz am Schluss, wie es damals war, als sie geboren wurde.
Dee erzählt das alles aus ihrer Perspektive, in einfachen, dafür umso poetischeren Worten. So schreibt sie etwa über ihr Zuhause «Bei uns ist es still. Das Beistelltischchen steht reglos neben dem Sofa. Die Vorhänge schlafen und die Bücher im Regal stehen dicht an dicht zugeklappt da.» Dee ist eine sehr begabte und genaue Beobachterin, nicht nur von Dingen, sondern auch von den Menschen in ihrer Umgebung. Im Laufe der Lektüre lernen Lesende deshalb auch Dees Nachbarn genauer kennen. Dees Empathie für andere überträgt sich auf die Lesenden und das Grübeln über ihre Herkunft wird in hohem Masse nachvollziehbar. Enne Koens hat ein wunderbares Buch geschrieben, das hoffentlich viele Leser:innen finden wird. Bei einzelnen Kindern braucht es vielleicht die helfende Hand eines Erwachsenen, damit sie einen Zugang zu dieser leisen, aber durchaus spannenden Geschichte finden und die Schönheit der Sprache entdecken. Für Kinder ab etwa 9 Jahren. 208 Seiten.

Enne Kones: Von hier aus kann man die ganze Welt sehen. Mit Vignetten von Maartje Kuiper. Gerstenberg 2024. ISBN: 978-3-8369-6248-3

Rezension: Maria Riss

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