Kim Slater: SMART oder Die Welt mit andern Augen

Kieran ist etwa 15 Jahre alt. Er lebt mit seiner ständig arbeitenden Mutter und einem immer betrunkenen und gewalttätigen Stiefvater zusammen. Kieran ist anders als die Jugendlichen in seinem Alter. Er geht zwar in die Schule der «Normalen», hat aber dort Frau Cane, die sich speziell um ihn kümmert. Er wird immer wieder zur Zielscheibe von Hohn und Spott. Kieran hat Asthma, er hat nervöse Zuckungen und er hat Mühe mit der Nähe zu andern. Aber Kieran ist überaus klug. Und er hat eine ganz aussergewöhnliche Begabung: Durch sein fotografisches Gedächtnis kann er akribisch genau zeichnen. Mit seinen Stiften gelingt es ihm, auch Gefühle und Stimmungen auf wunderbare Weise zu Papier zu bringen. Sein grosses Vorbild in Bezug auf die Malerei ist der englische Kunstmaler Lawrence Stephen Lowry.

Angefreundet hat sich Kieran mit den Obdachlosen unten am Flussufer. Dort bekommt er so etwas wie Liebe und ein bisschen Wärme. Und dann entdeckt er eines Morgens eine Leiche im Fluss. Ein Stadtstreicher ist ertrunken. Die Polizei scheint das wenig zu interessieren, das war wohl bloss ein Unfall. Kieran aber ist überzeugt, dass der alte Colin nicht einfach ins Wasser gefallen ist. Mit seiner guten Beobachtungsgabe, seinem Zeichenblock und einer ganzen Menge Mut macht er sich auf die Suche nach dem Mörder und kommt so seinem Traum, einmal ein berühmter Kriminaljournalist zu werden, ein ganzes Stück näher.

Kim Slater hat mit Kieran eine Figur geschaffen, der man beim Lesen sehr nahe kommt, obwohl Kieran sich oft so anders benimmt. Seine umwerfende Ehrlichkeit, die bei Erwachsenen oft Unmut auslöst, seine Hartnäckigkeit bei der Suche nach dem Verbrecher, sein Mut, sich für Wichtiges zu wehren, seine Liebe zur Malerei, das alles macht ihn zu einem besonderen, liebenswerten Helden. Geglückt ist der Autorin auch die Beschreibung des Milieus. Kieran lebt in einem dieser Vorstadtviertel, in dem Armut, Hoffnungslosigkeit und Gewalt vorherrschen. Man glaubt sich beim Lesen oft mittendrin, sieht die verkommenen Wohnblocks, die schmalen Wege dazwischen, die man niemals freiwillig in der Nacht benutzen würde. Die klare Zuordnung von Gut und Böse ist vielleicht ein bisschen plakativ geraten, der spannende Plot – gleich ab der ersten Seite – und die Figur von Kieran machen dies aber ohne Weiteres wett. Diese Mischung aus der grossen Spannung in der Handlung und der detailreichen Beschreibung der inneren Sichtweise des Protagonisten machen die Lektüre zum besonderen Erlebnis. Ein wunderbarer, berührender Debütroman für junge Leserinnen und Leser ab etwa 12 Jahren.

Kim Slater: SMART oder Die Welt mit andern Augen. Aus dem Englischen von Uwe Michael Gutzschhahn. dtv 2016. ISBN: 978-3-423-76134-5

Rezension: Maria Riss

 

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