Kirsten Boie: Heul doch nicht, du lebst ja noch
Die Geschichte spielt im Juni 1945 in Hamburg. Im Zentrum des Buches stehen drei Jugendliche, die abwechselnd von ihrem Leben kurz nach Kriegsende berichten. Da ist Hermann, der sich nach der spannenden Zeit als HJ-Führer zurücksehnt, der nicht nur ständig hungrig ist, sondern sich auch um seinen invaliden Vater kümmern muss. Beide Beine haben ihm die Tommys weggeschossen. Da ist Traute, die eigentlich Glück hat, weil ihr Vater eine der ganz wenigen Bäckereien betreibt. Aber in die enge Wohnung über dem Laden sind nun Geflüchtete aus dem Osten einquartiert. Deshalb verbringt Traute die meiste Zeit draussen auf der Strasse. Und da ist Jacob, der Judenjunge, der sich in einer alten Ruine versteckt hält. Jacob wartet auf den alten Mann, der ihm immer Essen brachte und nun seit schon so langer Zeit nicht mehr gekommen ist. Sein schrecklicher Hunger treibt ihn schliesslich in der Nacht auf die Strasse. Erst als Jacob von Traute und Hermann angesprochen wird, erfährt er, dass er sich wieder draussen bewegen darf, keine Angst mehr haben muss, dass dieser grausame Krieg endlich vorbei ist. Alle drei berichten von ihren Erlebnissen, alle drei versuchen, mit der neuen Situation auf irgendeine Weise zurechtzukommen.
Kirsten Boie hat ein sehr berührendes Buch geschrieben, die Schicksale der drei Hauptfiguren gehen unter die Haut. Immer wieder wechselt Kirsten Boie die Perspektive, ganz allmählich verknüpfen sich die drei Geschichten miteinander. Im Buch wird deutlich, dass nach dem Ende eines Krieges nicht einfach alles wieder wird wie vorher wird. Zu viele traumatische Erlebnisse prägen den Alltag der Menschen. Wieder zueinanderfinden ist schwierig und anspruchsvoll. Und Hunger kann Menschen dazu verführen, weiteres Unrecht zu begehen. Die versierte Autorin erzählt diese Geschichten in einer ruhigen, eindringlichen Sprache, voller Empathie. Ohne zu beschönigen aber auch so, dass man Verhaltensweisen nachvollziehen kann und sich Lichtblicke auftun. Gerade jetzt, wo Jugendliche wieder dauernd mit Krieg und Flucht konfrontiert werden, braucht es Bücher wie dieses. Solche Erfahrungen nachzulesen kann mithelfen, die Sichtweisen und Handlungen anderer besser zu verstehen. Ein wichtiges Buch für Kinder ab etwa 12 Jahren.
Kirsten Boie: Heul doch nicht, du lebst ja noch. Oetinger 2022. ISBN: 978-3-7512-0163-6
Rezension: Maria Riss