Nikola Huppertz: Fürs Leben zu lang
Magali ist etwa 13 Jahre alt. Sie hat von ihren Eltern ein Tagebuch bekommen, ein überteuertes Notizbuch mit Goldschnitt und Lesebändchen. Magali weiss allerdings nicht, was sie in dieses Buch schreiben soll, sie findet sich selbst absolut uninteressant und langweilig. Also, wenn sie schon in ein solches Buch schreiben soll, dann will sie über das Leben anderer erzählen, die mehr zu bieten haben. Magali selbst beschäftigen eigentlich nur zwei Dinge: Erstens, dass sie viel zu gross ist und zweitens, dass sie sich nichts sehnlicher wünscht, als endlich geküsst zu werden. Am liebsten von Joël, dem unglaublich smarten Nachbarsjungen. Magali ist eine Tagträumerin und stellt sich dieses Szenario immer wieder vor. Im gleichen Haus wohnt auch Herr Krekeler, ein liebenswerter alter Mann, der beschlossen hat, in diesem Frühling zu sterben. Herr Krekeler fasziniert sie nicht nur mit seinen Ansichten über das Leben und den Tod, Herr Krekeler hat auch einen ungewöhnlichen Enkel, der seine Ferien bei ihm verbringt. Zunächst findet Magali diesen Enkel einfach nur lästig, weil er dauernd quatscht und ihre Tagträume unterbricht. Etwas allerdings fasziniert Magali schon: Dieser Junge scheint sich, genauso wie sie, für ungewöhnliche Dinge zu interessieren, will Fragen auf den Grund gehen und zum Beispiel wissen, wie das richtige Leben geht. Aktuell ist diese Frage natürlich deshalb, weil Herr Krekeler beschlossen hat, er habe nun lange genug gelebt, es sei Zeit zu sterben. Dies löst bei Magali ein grosses Durcheinander an Emotionen aus und wirft Fragen auf. Der alte Mann wird zwar körperlich immer schwächer, dies tut aber seinem Geist, seinen oft weisen Gedanken, seiner Toleranz und sogar Lebensfreude in keiner Art und Weise Abbruch. Herr Krekeler stirbt dann tatsächlich, er schläft einfach ein. Magali ist zwar traurig, ihr fehlt der alte kluge Mann, aber sie hat eine ganze Menge über das Leben dazugelernt und bekommt tatsächlich ihren ersten Kuss.
Dieser Roman ist nicht nur inhaltlich und sprachlich überzeugend, faszinierend ist vor allem auch, dass Magali den Lesenden aufzeigt, wie schwierig es sein kann, in einem bildungsnahen Elternhaus aufzuwachsen. Die Mutter zitiert bei Problemen dauernd Seneca und der Vater interessiert sich als Arzt nur für die körperliche Befindlichkeit seiner Tochter und ist dabei nicht fähig, ihre Sorgen und Ängste wahrzunehmen. Magali ist eine Protagonistin, die man lesend gerne begleitet, die aber auch oft ein Nachdenken einfordert. Man muss sich auf sie, auf ihre genauen Beobachtungen und ihre oft witzig-klugen Tagebucheinträge einlassen. Das Buch eignet sich zum Vorlesen in kleinen Gruppen, weil es mit einer grossen Portion Ironie und Sprachwitz geschrieben ist und zudem eine ganze Menge Stoff zum Diskutieren bietet. Ein wunderbar spezielles Buch, für ebensolche Leser:innen ab etwa 12 Jahren.
Nikola Huppertz: Fürs Leben zu lang. Tulipan 2023. ISBN: 978-3-86429-570-6
Rezension: Maria Riss