Lesekompetenz entwickeln – Lesestrategien trainieren
«Lesekompetenz durch Lesetraining» – mit diesem Slogan kann man im Schlagzeilenstil einen lesedidaktischen Neuansatz der letzten Jahre charakterisieren.
von Gerd Kruse
Speziell nach den im Lesebereich enttäuschenden PISA-Ergebnissen 2000/2003 wurde in Kreisen von FachdidaktikerInnen wie BildungspolitikerInnen, Lehrkräften wie Eltern der Ruf nach einem neuen Lesetraining insbesondere auch im sog. weiterführenden Lesen auf der Primar- und Sekundarstufe laut:
«Wir (müssen) auf Lesetraining – auch im anspruchsvollen Sinne der metakognitiven Überwachung und Kontrolle des eigenen Textverständnisses – als wichtigen Aspekt der Leseförderung in allen Schulstufen in Zukunft mehr Wert legen.» (Bettina Hurrelmann: Leseleistung – Lesekompetenz. In: Praxis Deutsch 176/2002, S. 12)
Im Rahmen des Projekts «Lese- und Schreibkompetenzen fördern» verwenden 58 Lehrerpersonen im 4. und 8. Schuljahr zurzeit Trainingsmaterialien, die im Anschluss an die Erprobung publiziert werden. Ein Teil dieses Lesetrainings konzentriert sich auf den Aufbau von Lesestrategien (s. auch Rundschreiben No. 9 des Zentrums Lesen). Eine Übersicht und ein Beispiel aus dem Trainingsprogramm werden im Folgenden gerne vorab schon gegeben.
Was sind Lesestrategien?
Lesestrategien sind ‹Werkzeuge der Textbegegnung›, also Arbeitsmethoden und Arbeitstechniken im Lesebereich, die erlauben, den Leseprozess und das eigene Leseverstehen selbst zu planen, zu steuern und zu überwachen (‹funktionale und metakognitive Dimensionen von Lesestrategien›).
Man kann so definieren:
Lesestrategien sind bewusst gewählte und selbst kontrollierte Vorgehensweisen und Verstehensoperationen beim Lesen, die systematisch und gezielt zum Verständnisaufbau und Gebrauch von Texten eingesetzt werden.
Warum Lesestrategien trainieren?
Verschiedene Leseforschungsergebnisse zeigen, dass ein gezieltes und systematisches Lesestrategie-Training die Lesekompetenz deutlich verbessern kann:
«Der kompetente Leser legt sich zurecht, wie man sich einem Gegenstand nähert, er kontrolliert und reflektiert den Verstehensprozess. Kompetente Leser unterscheiden sich genau in dieser metakognitiven Haltung von weniger kompetenten Lesern, die eher zufallsgesteuert und auf gut Glück an das Erschliessen von Inhalten gehen – und daher oft ganz ratlos sind, wenn sie etwas nicht verstehen.» (Susanne Becker: Lesen verstehen. In: Deutsch 5 bis 10. Heft 2/2005, S. 40)
Und deshalb:
«Eine wichtige Möglichkeit der Steigerung der Lesekompetenz ist das Training von Lesestrategien, das heisst der Art und Weise, wie sich eine Person beim Lesen mit einem Text auseinandersetzt.» (Isolde Badel/Renate Valtin: Lesestrategien verbessern – Lesekompetenz fördern. In: Grundschule 2/2003, S. 23)
Schülerinnen und Schüler müssen lernen, auch beim Lesen und Verstehen selber Regie zu führen; im Strategietraining sollen sie handelnd erfahren, dass es darauf ankommt, gezielt und systematisch und nicht willkürlich und zufällig mit Texten umzugehen und auf Verstehensschwierigkeiten zielorientiert zu reagieren.
Freilich – und dies ist die andere Seite der Medaille: «Lehrende scheinen oft nicht zu wissen, wie sie sich der Aufgabe der Vermittlung von Techniken und Strategien beim verstehenden Lesen nähern sollen.» So heisst es wörtlich in einer neuen deutschen Expertise (Cordula Artelt u.a.: Expertise ‹Förderung von Lesekompetenz›. Bonn/Berlin 2005, S. 55).
Welche Lesestrategien wie trainieren?
Für den konkreten Unterricht vor Ort auf der oberen Primarstufe wie auf der Sekundarstufe wird vorgeschlagen, im aufgelockerten Nacheinander 6 Lesestrategien mit 24 Operationen auf dem Wege der angeleiteten, direkten Instruktion zu trainieren, woraus sich ein Zeitbedarf von insgesamt ca. 12–16 Lektionen (verteilt auf mind. 8 Wochen) ergibt.
Das Lesestrategie-Training ist so strukturiert, dass sich eine sinnvolle Schrittfolge von Lesestrategien gemäss der zeitlichen Abfolge ihres Gebrauchs im Leseprozess ergibt (vor dem Lesen: LS1; während dem Lesen: LS2–4; nach dem Lesen: LS5–6). Eine Lesestrategie wird jeweils mit vier Handlungen (Verstehensoperationen) eingeübt und soll dann im situierten (thematischen) Lesen in allen Fächern immer wieder erinnert und angewendet werden:
Zum Beispiel … Lesestrategie 2: Leseplanung
Exemplarisch kann am Beispiel von Planungsprozessen beim Lesen (Ls 2) verdeutlicht werden, wie und mit welchen Operationen im Lesestrategie-Training gearbeitet werden soll.
Bezugspunkt ist hier ein kurzer Text von Kirsten Boie, der für die Arbeit auf der 4. Klassenstufe geeignet scheint.
Was passiert, wenn du …?
Dein Gehirn meldet der Nebennierenrinde:
Gefahr!
Die Nebennierenrinde sendet blitzschnell
zwei Stoffe in deinen Blutkreislauf:
Adrenalin und Noradrenalin.
Man nennt sie auch Stresshormone.
Es kann sein, dass dir die Knie schlottern
oder dass du am ganzen Körper zitterst.
Und wenn die angst riesengross ist,
fällst du vielleicht sogar in Ohnmacht.
Durch dein Blut werden diese Stoffe
in deinen ganzen Körper transportiert.
Was machen sie da?
Im Gehirn blockieren sie das Denken.
Deshalb fällt dir auch bei Klassenarbeiten
oder an der Tafel manchmal auch das nicht mehr ein,
was du eigentlich genau weisst!
Deine Pupillen erweitern sich,
dein Herz schlägt schneller, du atmest schneller,
vielleicht wird dir auch übel, vielleicht werden deine Handflächen schweissnass,
und wenn die Angst ganz gross ist,
machst du dir vielleicht sogar in die Hose.
Erkennst du diese Reaktion wieder?
(aus: Kirsten Boie erzählt vom Angsthasen. Oetinger 1992, s. 14/15, leicht angepasst)
Operation 1: Text sichten und besondere Textelemente beachten
Schau nur kurz auf den Text: Was fällt dir auf? Kreuze das Zutreffende an!
– Überschrift(en)
– Es hat nach der Überschrift anders gedruckte Sätze, die erklären, worum es geht (Lead).
– Wörter oder Textteile, die anders (kursiv oder fett) gedruckt sind
– Nummerierte Wörter, Sätze oder Abschnitte
– Kästchen mit besonderen Textteilen (Info-Kasten)
– Liste(n) (wie beim Einkaufen)
– Grafik(en)
– Tabelle(n)
– Zeichnung(en)
– Foto(s)
– Farben
– Andere Besonderheiten: …………………………………………
Operation 2: Text global lesen und Thema erfassen
Lies drei Sätze: den ersten Satz des Textes, dann einen Satz ungefähr aus der Mitte und schliesslich den letzten Satz.
Was denkst du: Worum geht es im Text? Schreibe dazu einen Satz auf:…………………………………………………………..
Operation 3: Schwierigkeitsgrad des Textes einschätzen und Adressaten bestimmen
Was meinst du: Wie ist der Text geschrieben?
– leicht verständlich
– verständlich
– schwer verständlich
Was glaubst du: Ist das ein Text, der speziell für bestimmte Menschen geschrieben ist? Für wen?
– für Kinder
– für Jugendliche
– für Erwachsene
– für Leute mit einem bestimmten Hobby
– für Leute, die sich besonders für ein Thema interessieren
– für ………………………………………………………………………..
Im Falle von umfangreicheren Texten:
Operation 4: Das weitere Vorgehen planen
Wie muss man einen solchen Text lesen (Lesestil), damit man etwas davon hat?
– Vollständig, von vorne nach hinten
– Nur überfliegen, dann das Wichtige heraussuchen und verwenden
– Im eigenen Tempo, und zwar so, dass man den Text geniessen kann
– Zuerst überfliegen, dann das Wichtige Abschnitt für Abschnitt genau lesen und sich dabei Notizen machen
– ……………………………………………………………………………..
Was denkst du: Wie viel Zeit wirst du für das Lesen brauchen?
Wie gehst du weiter vor?
Mein Leseplan
– Wann lesen: ………………………………………………………….
– Wie lesen: …………………………………………………………….
– Weitere Notizen: …………………………………………………..