Konnten die Leute früher kein Schriftdeutsch?
Zur Rechtschreibkompetenz gehört nicht nur die Fähigkeit, Texte möglichst fehlerfrei schreiben zu können, sondern auch die Fähigkeit, Phänomene der Rechtschreibung untersuchen, reflektieren zu können. Wir stellen hier ein Modell vor, das im ersten Schritt den reflexiven Aspekt fokussiert, bevor es den Ausbau der Fertigkeiten in den Bereichen e/ä- und ck-Schreibung thematisiert.
von Thomas Lindauer und Stephan Nänny
→ gesamte Unterrichtsidee inkl. aller Materialien als PDF herunterladen
Die Grundlage bildet die Luther-Fabel «Der Wolf und das Lämmlein», die den Schülern und Schülerinnen sowohl in alter wie auch neuer Orthografie mit der Aufgabe präsentiert wird: «Vergleiche die beiden Texte hinsichtlich ihrer Schreibung.» Durch dieses Unterrichtsarrangement gewinnen sie Einsichten in die Geschichte der deutschen Sprache und deren Entwicklung und betrachten die Rechtschreibung aus einem eher ungewohnten Blickwinkel: Sie machen sich bewusst, was Rechtschreibregeln sind, wie sie formuliert werden können, welche Schwierigkeiten sich dabei ergeben, dass Orthografie verändert werden kann, dass diese ein von Menschen für Menschen gemachtes (Schreib-)Werkzeug und kein von Gott gegebenes System darstellt.
Bei ‹tranck› kommt es mir komisch vor – Kurzbericht aus der Praxis
Die Schüler und Schülerinnen bekamen also zwei Texte, die sie hinsichtlich ihrer orthografischen Besonderheiten vergleichen sollten. Ihre Beobachtungen hielten sie in ihren Lernjournalen fest. Das Lernjournal ist ein Instrument, das es Lehrpersonen ermöglicht, Lernende auf ihren Lernwegen zu beobachten und zu beraten: Wenn wir Kinder auf ihrem Lernweg begleiten wollen, müssen wir verstehen lernen, wie sie denken und wie sie ihr Wissen konstruieren.
Im Laufe der individuellen Forschungsarbeit tauschen die Kinder gelegentlich Beobachtungen und Erfahrungen aus. Die einfachste Form dafür ist das Lesen der Lernjournale im sogenannten Sesseltanz: Nachdem die Schüler und Schülerinnen in einer ersten Phase ihre Gedanken und Ideen zu Papier gebracht haben, legen sie ihr Lernjournal geöffnet an ihren Platz, geben ihren Stuhl frei und suchen sich einen anderen Stuhl bei einem geöffneten Lernjournal. Nach der Lektüre hinterlassen sie eine Rückmeldung, einen sogenannten ‹Blitz›. Auch die Lehrperson liest die Lernjournale aufmerksam durch und sucht nach Aussagen, die zu einer weiterführenden Auseinandersetzung einladen.
Im Folgenden zeigen wir, wie in einer 5. Klasse über die Rechtschreibung nachgedacht wurde.
Der Umlaut-Regel auf der Spur
Madeleine hat Folgendes entdeckt:
Bei einigen Wörtern ist es so in der alten Schrift dass man sie aufschreibt wie man sie ausspricht.[…]. Z. B. bei den Wörtern Zeene, schwetzen. Das kommt mir komisch vor. Konnten die Leute früher kein Schriftdeutsch?
Mit einer kleinen Sammlung von Beispielsätzen (vgl. Material 2) wurde der Blick derjenigen SchülerInnen, die sich von der alten e-/ä-Schreibung irritieren liessen, auf die Umlautregel gelenkt. Aufgrund des erweiterten Materials kommt dann Sarah zur Feststellung, dass man manchmal Gleichlautendes unterschiedlich schreibt:
Mir ist bei der Aussprache eingefallen, dass wenn man die Reihmwörter genau liesst, einen Unterschied gibt. Man betohnt manchmal das e wie ein ä und darum gibt es Reihme, die sich wegen e und ä Reimen. […] Ich habe es im Text beim Wort Felder, Wälder herausgefunden. Alexander umschreibt die entsprechende Regel:
Ein Wort mit a zum Beispiel Wälder schreib man als mehrzahl mit «ä» Wälder. Man schreibt es mit ä weil das andere Wort vom gleichen Wort ein a hat und wenn man es verwandelt endsteht aus einem a ein ä. Kraft = Kräfte, erhalten = erhältlich.
Alexanders Formulierung scheint im Vergleich mit einer Lehrbuchformulierung unbeholfen und nur schwer verständlich zu sein; dies stört aber nicht weiter: Wenn Alexander seine Regel jemandem aus der Klasse zum Lesen gibt, wird er erfahren, wie weit seine Formulierung von den andern verstanden wird und in welche Richtung er sie verständlicher formulieren muss; mit den ‹Blitzen› weisen die Forscher und Forscherinnen einander auch auf Verständnisschwierigkeiten hin.
Der ck-Regel auf der Spur
Melanie stösst bei ihrer Arbeit auf das Problem der ck-Schreibung:
Beim Wort tranck kommt es mir komisch vor denn ich schreibe das Wort so: trank. Denn das Wort trank habe ich früher mal geübt ohne ck zu schreiben und jetzt ist es plötzlich wieder anders. Jetzt verwirrt mich wieder das ck!
Wer sich verwirren lässt, ist bereit für einen Lernprozess: Die Frage nach der ck-Regel ist gestellt. Nicht nur Melanie ist bereit, ihr mithilfe von weiterem material nachzuspüren (vgl. Material 3).
Michelle findet einen ersten Zugang zur ck-Regel:
Ich höre den Unterschied gut, weil zum Beispiel beim Wort häkeln ist ja das häklen gemeint. Und wenn man häkeln mit ck schreiben müsste dann hatte das Wort nicht mehr den gleichen Sinn. Es würde dann häckeln heissen. Und heisst für mich so im Garten herum häckeln. Das ist bei anderen Wörter auch so.
Sie erinnert sich dabei daran, dass ihre Lehrerin in der Unterstufe auch schon von der ck-Regel gesprochen hat:
Frau C. hat uns das glaubich gesagt, das man nach a, e, i, o, u eigentlich immer einen ck hat. Ausser bei frend- wörter.
Offensichtlich hat Michelle von der deduktiv vermittelten ck-Regel nur einen Teil behalten können. Sicher hatte ihre ehemalige Lehrerin versucht, die Regel korrekt einzuführen. Woran liegt es aber, dass Michelle davon nur Bruchstücke aufnehmen konnte? Unter anderm dürfte dies daran liegen, dass die vermittelte Regelformulierung von Erwachsenen stammt: Rechtschreibregeln sind von Erwachsenen ihren eigenen Bedürfnissen entsprechend kurz und prägnant formuliert. Für Lernende sind solche Regelformulierungen jedoch oft zu dicht. Deshalb können sie sie häufig nur der Spur nach aufnehmen und verarbeiten.
Vanessa denkt über dasselbe Problem nach:
Bei den k-Wörtern wird der Selbstlaut ausgesprochen z.B. häkeln, und eckig. Man kann janicht eeckig sagen, bei den ck-Wörtern hat es keinen Selbstlaut. Da habe ich jetzt noch ein Beispiel: blöken, Decke, bei blöken hat es ein Selbstlaut, nämlich der «ö», und bei «Decke» hat es keinen Selbstlaut «die Deecke» das stimmt nicht. Sonst wäre es der «e» bei «Decke».
Hier wird eine besondere Eigenheit des entdeckenden Lernens sichtbar: Vanessa formuliert einen Sachverhalt mit Worten, die ihr zur Verfügung stehen. Oberflächlich gesehen scheinen Fehlüberlegungen vorzuliegen. Wenn man aber genauer hinschaut, wird deutlich, dass es sich hier um den gelungenen Versuch handelt, Beobachtungen in Begriffe zu fassen. Kinder bedienen sich dabei häufig nicht der regulären Termini, sondern kreieren eigene bzw. verwenden Termini in einer eigenen Bedeutung (hier den Begriff ‹Selbstlaut› eingeschränkt auf Langvokale).
Nach einer kurzen Diskussion über ihre Theorie unternimmt Vanessa einen neuen Versuch und probiert die Lösung über das ‹k› zu finden und formuliert die ck-Regel kurz, prägnant und für Kinder nachvollziehbar:
Bei den ck-Wörtern wird der Selbstlaut schnell ausgesprochen und bei den k-Wörtern langsam.
Von Sarah erhält dann Vanessa den folgenden Blitz, der zeigt, dass die Formulierungsversuche von Einzelnen für das Regelverständnis aller Schüler und Schülerinnen fruchtbarer sein können als die in den Sprachbüchern bereits ‹fertig› angebotenen Rechtschreibregeln:
Mir gefällt deine Arbeit sehr gut, weil du gute Stich- wörter aufgeschrieben hast. Du hast auch gut vergleicht zwischen «ck» und «k».
Auch Flavio gelingt es, weitere Hypothesen zur ck-Regel zu formulieren:
- Wörter kann man nicht mit ck beginnen. z.B.: Kessel
- Wenn zwei Selbstlaute nebeneinander stehen, schreibt man nie nachher ck, z. B.: quaken und schaukeln. streiken.
- Nach einem mittlaut schreibt man nicht ck, z.B.: wirklich und Wolke.
Flavio zeigt uns auch, dass die Erwachsenen-Logik nicht dem denken von Kindern entsprechen muss. Kinder folgern nicht von einer bestehenden Regel auf Einzelfälle. Ihr Denkweg verläuft umgekehrt: Zuerst machen sie einzelne Beobachtungen. Aufgrund dieser Entdeckungen stellen sie Hypothesen auf. Indem diese Hypothesen überprüft, angepasst und erweitert werden, entwickeln sich Regeln. Mit anderen Worten: Am Anfang steht das Phänomen und erst am Schluss die Regel.