Erweiterter Grammatikunterricht – Nachdenken über Sprachstrukturen

Über Sinn und Zweck von Grammatikunterricht lässt sich trefflich streiten, nicht aber darüber, dass Schüler und Schülerinnen ihre Neugier auf die Beschäftigung mit Sprache im Lauf der (Schul-)Zeit verlieren.

von Thomas Lindauer und Afra Sturm

Schuld daran ist auch ein Grammatikunterricht, der hauptsächlich die Vermittlung von Fachbezeichnungen und das damit verbundene Klassifizieren beinhaltet. Zudem strebt er häufig zu früh nach (vollständiger) Systematik. Begründet wird diese ‹Konzeption› meist damit, dass die Schüler und Schülerinnen so lernen, Fallfehler, falsche Präteritumsformen etc. zu vermeiden. Die damit einhergehende Normorientierung verstellt den Lehrenden und Lernenden den neugierig forschenden Blick auf sprachliche Strukturen: Ein wirkliches Nachdenken über Sprachstrukturen wird so behindert.

Wir halten es zwar durchaus für sinnvoll, sorgfältig ausgewählte und aufbereitete Bereiche des traditionellen Grammatikunterrichts in der Volksschule zu erarbeiten, diese Bereiche sollten aber in Umfang und Behandlungstiefe reduziert werden. Zugleich sollte der Grammatikunterricht um ein forschend-entdeckendes Untersuchen von Sprachstrukturen erweitert werden. Es lassen sich dabei drei Dimensionen unterscheiden, in denen sich je unterschiedliche Formen von Grammatikkompetenz zeigen:

  1. Natürliche, im primären Spracherwerb angeeignete Grammatikkompetenz
  2. Sprachstrukturen erforschen
  3. Schulgrammatische Klassifikationen und Operationen

Zu 1: Jeder Sprecher, jede Sprecherin einer (Erst-)Sprache beherrscht die natürliche Grammatik dieser Sprache und verfügt damit über eine entsprechende Grammatikkompetenz. Die Grammatik wird während des Spracherwerbs (weitgehend ungesteuert und unbewusst) erworben. In jeder Sprache lassen sich fünf Bereiche einer Grammatik unterscheiden:

  • Wortschatz (mentales Lexikon, Wortbedeutung)
  • Regeln der Lautbildung (Phonologie)
  • Regeln der Wortbildung (Morphologie)
  • Regeln der Satzbildung (Syntax)

Jede Sprache weist in diesen Bereichen ihre Eigenheiten auf. Eigenheiten der Erstsprache werden insbesondere dann deutlich, wenn man fremde Sprachen erwirbt: Es fehlt einem das passende Wort (Lexikon); man hört einen Akzent (Phonologie); Verben werden falsch konjugiert (Morphologie) usw. Grammatikkompetenz in diesem Sinne meint also die Fähigkeit, eine Sprache (in unserem Fall das Standarddeutsche) grammatisch möglichst fehlerfrei gebrauchen zu können.
Grammatik umfasst also nicht nur Wortarten und Satzglieder, sondern – dies zeigt etwa ein Blick in die Duden-Grammatik – auch Lautstruktur und Wortbildung einer Sprache.

Zu 2: Grammatische Strukturen von Sprachen lassen sich erforschen. Dafür braucht es spezifische Kompetenzen wie die Fähigkeit, Sprachstrukturen miteinander zu vergleichen, Fragen zu stellen und Hypothesen zu bilden, die eigene Forschungstätigkeit zu dokumentieren etc.

Zu 3: Gegenüber dem sprachwissenschaftlichen Instrumentarium verfügt die Schulgrammatik über ein reduziertes Begriffs- und Beschreibungsinventar. Damit können in der Schule nicht alle grammatischen Phänomene erfasst werden. So kennen alle Lehrpersonen die Frage, ob nun das Partizip Perfekt als Verb oder als Adjektiv zu bestimmen sei (das verkaufte Haus vs. das Haus wurde verkauft), ob die Verbpartikel als Partikel oder als Verb oder als Verbzusatz markiert werden soll, wenn sie vom Verb getrennt steht (sie fuhr… ab) usw. Da die Grammatik einer Sprache nicht so einfach ist, wie es schulgrammatische Kategorien erscheinen lassen, sollte man sich beim Erarbeiten eben dieser Kategorien auf unproblematische Fälle beschränken. Erst wenn genügend Sicherheit im Gebrauch der Operationen und Begriffe erreicht wurde, können auch komplexe Fälle untersucht werden. Dies ist unserer Auffassung nach erst im Gymnasium oder an der Hochschule bzw. Universität möglich.

Was meint «erweiterter Grammatikunterricht»?

Sollen die drei Dimensionen einer Grammatikkompetenz in der Schule gefördert werden, müssen neben traditionellen Gegenständen auch grammatische Phänomene in den Blick genommen werden, die sich für einen altersgerechten Zugang zum Verstehen von Sprachstrukturen besonders eignen. Damit sich auch die Fähigkeiten des selbständigen Forschens und Reflektierens (Dimension 2) ausbilden können, darf sich Grammatikunterricht nicht nur auf das Lösen von Bestimmungsübungen beschränken, sondern muss auch ergebnisoffene Lernumgebungen bieten.
Damit ist also eine Erweiterung des Grammatikunterrichts (= Untersuchung der Sprachstruktur) in zweifacher Hinsicht gemeint, nämlich im Hinblick auf die Methodik und in Bezug auf die Gegenstände, die untersucht werden:

  1. Erweiterung der Methodik heisst, dass im Grammatikunterricht nicht nur a) das Einüben (schul-) grammatischer Operationen und der Erwerb der traditionellen Termini methodische Leitlinie sein kann, sondern dass b) auch echtes Forschen nötig ist, das heisst ein Forschen, bei dem weder die Ergebnisse noch die Begriffe von vornherein gegeben sind. Das erfordert seitens der Lehrpersonen etwas Mut, denn auf gewisse Fragen werden sie keine Antworten wissen (wie die Linguistik zum Teil ja auch nicht). Damit die grammatische Entdeckungsreise nicht zu einer Blindfahrt wird, brauchen Lehrpersonen Basiswissen über grammatische Methoden sowie Lehrmittel, die ein solches Lernen anregen.
  2. Erweiterung des Gegenstandsbereichs meint, dass nicht nur traditionelle Themen wie Wortart- und Satzgliedbestimmung etc. Gegenstand sein sollen, sondern auch Laute und ihre Struktur (Phonologie), Wörter und ihre Bauweise (Morphologie) Gegenstand des Unterrichts werden.

Aufgaben zur Sprachreflexion sollen das Entdecken und Erforschen sprachlicher Strukturen anleiten. Sprache erforschen ist dort möglich, wo es Regularitäten zu entdecken gilt, die den Lernenden noch nicht bekannt sind. Die Lernenden sollen zu den Lernbereichen durch ein methodisch offenes Lernarrangement geführt werden. Dahinter steckt die Hoffnung, dass das selbständige Formulieren von Hypothesen und Erkenntnissen den Schülern und Schülerinnen dabei hilft, den Lerngegenstand tiefer zu durchdringen und ihn sich so stärker zu eigen zu machen.

Ein kleines Beispiel, das wir auf der Website www.wer-weiss-was.de gefunden haben, kann dies illustrieren:

Anfrage: «Hallo, gestern in der Deutsch-Stunde hat uns unser Lehrer eine meiner Meinung nach sinnlose Hausaufgabe gegeben: Wir sollen 30 ‹schöne› Wörter aufschreiben. Nun ja, ein paar hab ich schon gefunden. Aber leider ist es ziemlich schwer, sich 30 ‹schöne› Wörter einfallen zu lassen, da man meistens immer nur dieselben benützt. […]»

Antwort 1: «Meinst Du mit ‹schöne› Wörter, die schön klingen oder die ‹schön› mit anderen Worten ausdrücken? […] Und Synonyme hätte ich auch ein paar: hübsch, ansehnlich, gutaussehend, attraktiv, ansprechend, niedlich, nett, süss, fein, adrett, toll, grossartig, atemberaubend haben zwar teilweise eine deutlich unterschiedliche Färbung (niemand würde Heidi Klum für niedlich halten oder mein Kaninchen für attraktiv *IoI*). Aber im Prinzip ist es das! […]

Antwort 2: «So sinnlos scheint die Aufgabe dann wohl doch nicht zu sein ;–). Also nimmt man einfach ein paar Wörter, die man sonst selten benutzt. Und finden kann man sie, wenn man z.B. ein bisschen in einem Buch mit alten Gedichten blättert: geziemend, bang, flammend, Taumel […]. Den Rest überlasse ich dir, damit die Aufgabe nicht ganz ihren Sinne verfehlt ;)»

Antwort 3: «Fremdwörter vielleicht? amplifizieren, Bibliomanie, Chiliasmus, Deviation, Euphemismus, Flamboyant, Gynandromorphismus, Hendiadyoin […]»

Beim forschenden Lernen gibt es nicht nur eine Lösung: Das Lern-Arrangement ist keine Engführung auf eine bestimmte Lösung hin – wie dies tendenziell für ein entdeckend-nachvollziehendes Lernen gilt –, sondern auch Unerwartetes ist wichtig und erwünscht. Das ist für Lehrpersonen anspruchsvoll, da die Schülerinnen und Schüler sie mit Problemen, Fragen oder Einzelfällen konfrontieren können, welche die Lehrperson selbst nicht lösen kann. Aber damit entsteht Wichtiges: Aufgrund von Beobachtungen und Hypothesen ergeben sich neue Fragen, und Forschen heisst zuallererst Fragen stellen.

Fazit: Es liegt auf der Hand, dass Lehrpersonen in einem so verstandenen Grammatikunterricht nicht immer die «letzte Autorität» sein können und müssen, vielmehr sollen auch sie über Sprachstrukturen nachdenken. Dadurch ergibt sich ein Reflexionsfeld, das zu weiteren Forschungen einlädt, aber auch zu einer erhöhten Sensibilität gegenüber der Sprache beiträgt. Entsprechende Unterrichtsanregungen und Lernarrangements finden sich in Lindauer/Sturm 2010b und im Sprachlehrmittel «Die Sprachstarken».

 

Literatur

  • Lindauer, Thomas und Sturm, Afra (2010a): Erweiterter Grammatikunterricht. In: ide 2, S. 33– 42.
  • Lindauer, Thomas und Sturm, Afra (2010b): Wortkunde. In: Dudenverlag (Hrsg.): Schülerduden. Mannheim: Dudenverlag. S. 557–596.
  • Unterrichtsbeispiele: «Die Sprachstarken» Sprachbuch Bd. 2, S. 74f., 77; Bd. 3, S. 72f., 77f., Bd. 4, S. 70f., S. 84f.; Bd. 5, S. 68f, 74f., 82f.; Bd. 6, S. 72f., 78f., 88f.

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