Ich sehe was, was du (noch) nicht siehst: Relevantes in Texten erkennen helfen
Einmal angenommen, Sie erhalten einen 350 Wörter langen Text, dessen Anfang so aussieht wie der folgende. Diesen Text sollen Sie in maximal 60 Wörtern zusammenfassen und zusätzlich die fünf für Sie wichtigsten Sätze unterstreichen. Welche Sätze würden Sie wählen?
von Katharina Kirchhofer, Martin Brändli und Maik Philipp
(Quelle: Winograd 1984, S. 411)
Die eben gestellte Aufgabe sollten sowohl gut als auch schwach lesende Jugendliche achter Klassen in einer Studie lösen. Gut lesende Jugendliche wählten überwiegend Satz 1, die schwächeren Leser die Sätze 4, 5, 12 und 13. Die letztgenannten Sätze sind typisch für die Antworten der schwächeren Jugendlichen: Es handelt sich um Sätze mit Details. Noch problematischer aber ist der Befund, dass leseschwache Jugendliche selten Informationen aus den als wichtig erachteten Sätzen tatsächlich in ihren Zusammenfassungen verwendeten (Winograd 1984). Das Problem ist also ein doppeltes: Erstens erfolgt die Auswahl wenig zielgerichtet und zweitens schlägt sie sich nicht in der Zusammenfassung nieder.
Das Zusammenfassen von Texten ist aber nach allem, was bekannt ist, eine der wirksamsten Lesestrategien und steigert das Textverstehen erheblich. In Studien (siehe die Metaanalyse von Souvignier & Antoniou 2007) sind bei schwach lesenden Heranwachsenden durch entsprechende Interventionen Zuwächse im Leseverstehen beobachtet worden, die rund vier Schuljahren entsprechen – oder umgerechnet zwei PISA-Kompetenzstufen. Daher ist es sinnvoll, die Fähigkeit, Textinhalte analytisch zu organisieren und zu verdichten, gezielt zu schulen. Dazu, so die Leseforschung, verwenden Leserinnen und Leser eine oder mehrere der folgenden Regeln:
- Ignoriere überflüssige/triviale Informationen.
- Ordne die Informationen hierarchisch.
- Wähle einen Satz aus, der die zentrale Aussage eines Textteils wiedergibt.
- Wenn es einen solchen Satz nicht gibt, erfinde selbst einen.
Diese Regeln folgen einer zunehmenden Schwierigkeitsabstufung. Selbst schwache Leserinnen und Leser können überflüssige Informationen ausblenden (Regel a). Für sie ist eher das Generieren von nur implizit im Text vorhandenen Kernaussagen (Regel d) ein Problem. Diese Fähigkeit ist für das Zusammenfassen der meisten Texte essentiell.
Vermittlung im Unterricht
Wie kann man das Zusammenfassen von Texten nun auch schwach lesenden Heranwachsenden beibringen? Am besten stützt man sich auf die Prinzipien der direkten Instruktion. Dabei folgt die Lehrperson bei der Vermittlung einer bestimmten Abfolge von Schritten:
- Erläuterung der Ziele und Funktionen einer Strategie wie dem Finden von Kernaussagen;
- Vermittlung von deklarativem Strategiewissen;
- Modellieren der zu erlernenden Tätigkeit;
- Angeleitetes, erst allmählich selbstständigeres Üben der Schülerinnen und Schüler.
Besonders das Modellieren des Vorgehens (3. Schritt) ist für leseschwache Schülerinnen und Schüler wichtig, da sich durch Beobachtung eine Vorstellung herausbilden kann, wann und wie Lesestrategien angewendet werden. Hierfür ist es essentiell, dass die Lehrperson alles verbalisiert, was beim Lesen in ihrem Geiste abläuft. Dieses «laute Denken» ermöglicht es den Schülerinnen und Schülern, die mentalen Aktivitäten der Lehrperson nachzuvollziehen und später selbständig umzusetzen.
Wie geht man nun vor, wenn man modellieren möchte, wie man einen Text zusammenfasst? Dies soll nachstehend anhand des Textausschnitts (siehe Kasten) für die oben stehenden Regeln c und d demonstriert werden. Konkret geht es darum, für jeden Absatz eine Kernaussage zu suchen bzw. zu generieren, um den Text auf seine wichtigsten Inhalte zu reduzieren. Eine Kernaussage setzt sich immer aus zwei Bestandteilen zusammen: Thema und Hauptinformation zum Thema. Das Thema eines Absatzes ist die Person oder die Sache, auf die sich die meisten Sätze beziehen. Die Hauptinformation ist das Wichtigste, was man zum Thema erfährt. In jedem Absatz finden sich verschiedene Details, die sich auf die Bestandteile Thema und Hauptinformation beziehen und somit die Kernaussage untermauern. Wenn eine Lehrperson modelliert, wie sie Kernaussagen findet, könnte sich das so anhören:
«Sehen wir uns zunächst den zweiten Absatz des Textausschnitts an. Im zweiten Absatz finden sich in jedem Satz Informationen, die sich auf Slums beziehen. Das Wort ‹Slum› kommt in jedem Satz einmal vor. Wir können also davon ausgehen, dass ‹Slums› das Thema dieses Absatzes ist. Was ist nun die Hauptinformation, die wir zum Thema ‹Slums› erfahren? Es gibt lauter Informationen zu den Slums: Sie waren überfüllt und schmutzig. Es gab Krankheiten, viel Müll, Insekten und Ratten. Das sind alles negative Ausdrücke, die die Probleme in den Slums genauer umschreiben. Wir können also sagen, dass ‹waren ein Problem› die Hauptinformation ist, die wir zum Thema ‹Slums› erfahren. Die Kernaussage könnte also lauten ‹Slums waren ein Problem›. Nun stellen wir fest, dass diese Aussage in einem der Sätze bereits genannt wird, nämlich im ersten Satz des Absatzes, Satz 3.»
Im Falle des zweiten Absatzes liegt ein Absatz mit expliziter Kernaussage vor, was ein eher seltener Fall ist. Die allermeisten Texte, denen man im Alltag begegnet, enthalten implizite Kernaussagen, die vom Leser selber formuliert werden müssen.
Um das Vorgehen beim Generieren von impliziten Kernaussagen zu demonstrieren, ist der dritte Absatz geeignet. Hier fehlt eine explizite Kernaussage. Eine Lehrperson könnte nach dem Lesen Folgendes sagen, um die Schlussfolgerungen zu demonstrieren, die zur impliziten Kernaussage führen:
«In den meisten Sätzen geht es um die Bauweise der Häuser in den Städten. Die Ausdrücke ‹Gebäude›, ‹über Nacht›, ‹nicht gut konstruiert›, ‹dicht beieinander›, ‹Holz›, ‹hergestellt› beziehen sich alle auf die Art, wie in den Städten gebaut wurde. ‹Die Bauweise der Städte› ist also das Thema in diesem Absatz, obwohl dieser Ausdruck an sich nirgends vorkommt.Was ist nun das Wichtigste, das ich zum Thema ‹Bauweise der Städte› erfahre? Viele Details in diesem Absatz beziehen sich auf Brände: Gefahr, Feuer, herunterbrannten, schlimmsten, zerstört, starben, verletzt, Feuerwehrstellen. Die Hauptinformation, die ich zum Thema ‹Bauweise der Städte› erfahre, ist also, dass sie zu Bränden führte. Setze ich Thema und Hauptinformation zusammen, erhalte ich die im Absatz nicht ausformulierte Kernaussage ‹Die Bauweise der Städte führte zu Bränden›.»
Genau auf diese Weise kann auch im Schulunterricht Schritt für Schritt modelliert werden, wie man sich Kernaussagen textbasiert erarbeiten kann. Hat man dann schliesslich zu jedem Absatz die Kernaussage gefunden oder formuliert, können diese Kernaussagen zu einer Zusammenfassung des gesamten Textes zusammengefügt werden. Die oftmals abschreckend wirkende Aufgabe «Erstelle eine Zusammenfassung zu Text XY» wird so auch für leseschwache Jugendliche zu einer handhabbaren Aufgabe, aber nur dann, wenn sie diese Fähigkeit aktiv und über längere Zeit von Lehrpersonen explizit vermittelt bekommen.
Literatur
Winograd, P. N. (1984): Strategic Difficulties in Summarizing Texts. In: Reading Research Quarterly. H. 4., S. 404–425.
Souvignier, E. & Antoniou, F. (2007): Förderung des Leseverständnisses bei Schülerinnen und Schülern mit Lernschwierigkeiten – eine Metaanalyse. In: Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete. H. 1, S. 46–62.