«Ein Lehrmittel ist ein Werkzeug für den Unterricht» Interview mit Thomas Lindauer

«Man erfährt auch die Grenzen eines Lehrmittels, denn es hat nicht alles Platz und es lässt sich nicht alles auf Papier bringen, was für das Fach wichtig ist.»

Seit diesem Sommer ist die Entwicklungsarbeit am Deutschlehrmittel «Die Sprachstarken 2–9» abgeschlossen. Begonnen hat diese Arbeit am Zentrum Lesen im Jahr 2002 mit einem Vorkonzept im Auftrag des Verlags Klett & Balmer. Die Arbeit am Lehrmittel selbst begann dann unter der Leitung von Irene Schüpfer (Klett-Verlag), Thomas Lindauer (Zentrum Lesen) und Werner Senn (PH Luzern) mit einem Team von Lehrpersonen im Jahr 2003.

Ein Gespräch mit Thomas Lindauer, Leiter des Zentrums Lesen und fachdidaktischer Leiter dieses Lehrmittelprojekts.

Aufgezeichnet von Julienne Furger

 

Das letzte Lehrwerksteil der «Sprachstarken», die Karteikarten, ist nun erschienen. Wie fühlt man sich nach einer so langen, intensiven Entwicklungsarbeit? Gibt es da auch etwas Wehmut?
Wehmut nicht gerade, aber man fühlt sich etwas müde wie nach einer langen Velotour, die anstrengend, aber auch schön und bereichernd war. Zugleich bin ich mit dem Erreichten sehr zufrieden. Die Entwicklung eines Lehrmittels ist ja immer Teamwork und ohne dieses Team, vor allem auch in der Zusammenarbeit mit Werner Senn, würde heute nicht dieses Produkt in einer solchen sprachdidaktischen Qualität vorliegen.

14 Jahre sind eine lange Zeit. Wie hast du diesen Entwicklungsprozess persönlich erlebt?
Wenn man 14 Jahre an einem Lehrmittel arbeitet, dann komplementiert man sich auch als Deutschdidaktiker. Mein Blick auf Unterricht und vor allem auch auf die Funktion von Lehrmitteln im Lehrprozess hat sich in dieser Zeit verändert.
Man erfährt auch die Grenzen eines Lehrmittels, denn es hat nicht alles Platz und es lässt sich nicht alles auf Papier bringen, was für das Fach wichtig ist. Da muss man immer wieder realistisch sein und sich von gewissen Ideen auch verabschieden, die in einem Lehrmittel nicht sinnvoll umzusetzen sind. Dies gelingt nur durch einen intensiven Diskurs in einem heterogenen Team. Erst im Diskurs mit den Autorinnen und Autoren, den Redaktorinnen, den fachdidaktischen KollegInnen lassen sich Lösungen finden.
Dieser Prozess war natürlich nicht immer reibungsfrei, denn nicht nur Werner und ich hatten unseren eigenen Kopf (lächelt).

Würdest du rückblickend etwas anders machen?
Ja, sicher nicht grundsätzlich, aber im Detail schon. Wenn ich aus der heutigen Perspektive zum Beispiel Band 4 betrachte, den wir zuerst erarbeitet haben, dann würde ich die Aufgaben zum Teil präziser konstruieren. Die Aufgaben sind teilweise noch etwas diffus in Lernschritte gegliedert, die Texte sind ebenfalls zum Teil noch zu wenig gut situiert und manchmal auch zu schwierig.

Was zeichnet die Sprachstarken unter einer Sprachlernperspektive besonders aus?
Was die Sprachstarken besonders auszeichnet, sind die kleinschrittig strukturierten Aufgaben, die so das Sprachlernen in kognitiv sinnvolle und lernpsychologisch angemessene Schritte strukturieren. Wir unterstützen damit den Ansatz von Cognitive-Apprenticeship, der sich als ausgesprochen effektiv für formelles Lernen, wie es in der Schule stattfindet, erwiesen hat.

Was bedeutet «Cognitiv Apprenticeship» in Bezug auf ein Lehrmittel?
Durch die ausformulierten Aufgaben im Sprachbuch und Arbeitsheft geben wir den Lehrpersonen eine Orientierung für das sog. «Modeling» (Vormachen und lautes Denken) an die Hand. Die daran anschliessenden Phasen «Coaching» und «Scaffolding» können durch ein Lehrmittel im Sinne der didaktischen Strukturierung des Lernens mit Aufgaben und Materialien vorstrukturiert werden, umsetzen kann das aber nur eine Lehrperson in der direkten Lehr-Lern-Interaktion im Unterricht. Wir haben das Lehrmittel auch so angelegt, dass die Lernenden dazu angeregt werden, ihre Gedanken, Ideen und Lösungen wiederzugeben, beispielsweise indem sie vieles im Arbeitsheft festhalten müssen. Das führt dann immer wieder auch zur kooperativen Bearbeitung von Aufgaben. Und schliesslich regen wir mit den vielen Selbstbeurteilung auch die Reflexion über Lösungen und Strategien im Austausch mit anderen an.

Fühlen sich erfahrene Lehrpersonen durch diese hohe Strukturierung nicht in ihrer Lehrfreiheit eingeschränkt?Interessanterweise nicht. Offenbar erkennen gerade erfahrene Lehrpersonen das Potenzial der hohen und sprachdidaktisch durchdachten Strukturiertheit fürs Lernen. Sie fühlen sich in ihrem Unterrichten durch die Ausdifferenzierung und Ausformulierung der Aufgaben unterstützt. Was jedoch manchmal ein Problem zu sein scheint: Einige Lehrpersonen gehen davon aus, dass die Aufgaben, gerade weil sie so klar anleiten, selbstständig gelöst werden können. Das ist aber ein Missverständnis: Die Aufgaben im Sprachbuch und im Arbeitsheft sind als Skripte für die Lehrperson gedacht. Das heisst: Die Aufträge müssen von ihr vorgelesen, kommentiert und in bewältigbare Portionen zerlegt werden. Im Verlauf der Bearbeitung können dann die Lernenden aber  immer  wieder  auf  einen Aufgabenschritt hingewiesen werden: «Lies nochmals die Aufgabe 3b».

Was war für dich die Motivation, in einem solch umfangreichen Lehrmittelprojekt mitzutun?
Für jemanden wie mich, dem das schulische Lernen am Herzen liegt, ist es ein Glück, dass ich auf diese Art und Weise den Deutschunterricht mitprägen kann. Als Dozent für Deutschdidaktik habe ich meinen Studierenden immer gesagt, wie Deutschunterricht gehen soll, jetzt habe ich die Konkretisierung und Illustration für eher abstrakte sprachdidaktische Konzepte.

Welches waren lehrmitteltechnisch gesehen die Knacknüsse?
Das Fach Deutsch ist ein Fach mit einem hohen Anteil an Mündlichkeit. Das Problem war: Wie bringen wir das aufs Papier? Wir haben den Weg der Metakognition gewählt, das heisst, wir leiten die Schülerinnen und Schüler an, über Gespräche und Gesprächsregeln nachzudenken. Anders kann man das in einem papierenen Lehrmittel kaum machen. Ich bin gespannt, wie neue Lehrmittel, insbesondere mit der Möglichkeit der digitalen Medien, diese Aufgabe lösen werden.

Das ist ja eine gewaltige Materialfülle, die da vorliegt. Wie haben die Lehrpersonen auf das neue Lehrmittel reagiert?
Ja, das Lehrmittel ist reich an Materialien und manchmal scheint es fast zu viel – aber wenn man den Lehrpersonen auch die Möglichkeit der Auswahl, des Abwechselns bieten will, braucht es eine gewisse Fülle. Gleichzeitig lassen wir sie ja nicht allein mit dem Material, sondern bieten ihnen eine Strukturierungshilfe für den Unterricht an. Wir möchten vor allem den BerufseinsteigerInnen mit diesem Lehrmittel eine Hilfe fürs Sprachlehren bieten, indem wir ihnen so viel vorgeben, dass sie gut durch ihre ersten Jahre im Deutschunterricht geführt werden und sich ihr Vor- und Nachbereitungsaufwand in bewältigbaren Grenzen hält.

Erfordert ein solch umfangreiches und auch komplexes Lehrmittel nicht eine zu hohe Einarbeitungszeit?
Das glaub ich nicht. Einige Kapitel lassen sich mit wenig Aufwand direkt im Unterricht einsetzen. Aber das heisst natürlich nicht, dass der Umgang mit dem Lehrmittel keine Einarbeitung erfordert. Wie für jedes Werkzeug, und ein Lehrmittel ist für mich ein Werkzeug für das Unterrichten, gilt: Je besser ich weiss, wie das Werkzeug funktioniert, wie es zu gebrauchen ist, wofür man besser ein anderes wählt, um so besser kann ich es für meine Arbeit nutzen.
Werkzeug werden mit zunehmender Erfahrungen in ihrer Handhabung immer nützlicher. Das gilt auch für Lehrmittel: Die Wirkung der Sprachstarken auf das Sprachlernen der SchülerInnen nimmt mit zunehmender Erfahrung der Lehrpersonen im Umgang mit dem Lehrmittel zu.

 

Die Sprachstarken sind ein stufenübergreifendes Sprachlehrmittel, welches die Kinder der gesamten Volksschule in ihrem Sprachlernen unterstützt. Es ist curricular entsprechend dem Lehrplan 21 aufgebaut und fördert in einer ganzheitlichen Form die Sprachkompetenzen in allen Sprachbereichen.
2016 wurde das Lehrmittel mit dem Worlddidac Award ausgezeichnet.

Thomas Lindauer ist Leiter des Zentrums Lesen, Sprachwissenschaftler und Sprachdidaktiker. Er hat die schweizerischen Bildungsstandards für Schulsprache sowie den Deutschschweizer Lehrplan 21 mitentwickelt. Er ist sprachdidaktischer Leiter des Sprachlehrmittels «Die Sprachstarken 2–9» und Leiter verschiedener Forschungs- und Entwicklungsprojekte.

Schreiben wirksam fördern. Lernarrangements und Unterrichtsentwicklung für alle Stufen

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