«Kinderliteratur – Keine kleine Literatur für Kleine» Interview mit Maria Riss
Maria Riss, Mitbegründerin des Zentrums Lesen, lässt sich im März 2017 pensionieren. Im Interview erzählt sie, wie das Zentrum Lesen entstanden ist, was die Stützpfeiler einer wirksamen Leseförderung sind und was sie nach ihrer Pensionierung vorhat.
Interview und Foto: Julienne Furger
Nach sechs Jahren Unterrichtstätigkeit als Primarlehrerin hast du 1980 einen Kinderbuchladen eröffnet und diesen fast 20 Jahre lang erfolgreich geführt. Nach dem Verkauf der Buchhandlung hast du dich als Verlagsmitarbeiterin und Lehrbeauftragte weiterhin mit Kinderliteratur beschäftigt und 2001 zusammen mit Andrea Bertschi-Kaufmann das Zentrum Lesen gegründet. Wie kam es dazu?
Andrea Bertschi-Kaufmann und ich haben seit längerer Zeit gemeinsam an der HPL (Höhere Pädagogische Lehranstalt) in Zofingen unterrichtet. Immer wieder wurden wir für Weiterbildungen angefragt. Es war offensichtlich ein Bedürfnis vieler Lehrpersonen, sich im Bereich der Leseförderung weiterzubilden. Dies brachte uns auf die Idee, ein Zentrum für Forschung und Entwicklung im Bereich Leseförderung zu gründen. Ich hatte mir zudem seit über 20 Jahren ein fundiertes Wissen über die Kinder- und Jugendliteratur angeeignet, dies wollte ich weiterhin vertiefen und mein Wissen für die Praxis zugänglich machen.
In den 16 Jahren seit seiner Gründung ist das Zentrum Lesen stark gewachsen und ist zu einem erfolgreichen Kompetenzzentrum im Bereich der forschungsbasierten Sprachdidaktik geworden. Wie hast du diese Veränderungen erlebt?
Es war eine sehr spannende Zeit. Täglich gab es neue Herausforderungen zu bewältigen. Vor allem der Austausch innerhalb des Teams war immer sehr anregend, da viele Leute mit unterschiedlichen thematischen Schwerpunkten im Zentrum Lesen arbeiten. Dabei wurde und wird der Zusammenhalt immer gross geschrieben, es gibt kein gegenseitiges Ausstechen und das Miteinander war vor allem in der Anfangszeit einmalig. Der Bereich der Entwicklung war manchmal schwierig, vor allem mit der zunehmenden Akademisierung der Lehrerbildung nahm die Forschung einen immer grösseren Platz ein. Und auch die Strukturen innerhalb der Hochschule sind sehr viel komplexer geworden. Das machte die Arbeit nicht eben einfacher. Für die Zukunft hoffe ich, dass der direkte Kontakt zu den Lehrpersonen weiterhin gepflegt und vielleicht auch wieder ausgebaut werden kann. Dieser enge Kontakt zur Basis hat den Erfolg des Zentrums Lesen bestimmt und macht auch die Forschung glaubhaft.
Die Leseförderung hat seit dem sogenannten «Pisa-Schock» 2001 an Bedeutung gewonnen und es wurde viel zu diesem Thema geforscht. Was sind für dich aufgrund deiner jahrelangen Erfahrung die Stützpfeiler einer wirksamen Leseförderung?
Kontinuität ist wichtiger als einmalige grosse Aktionen. Es braucht ab und zu solche Höhepunkte wie Lesenächte, das sind schöne, gewinnbringende Anlässe, die auch in Erinnerung bleiben. Aber was mir noch wichtiger scheint, ist das Einbinden von Leseerfahrungen in den schulischen Alltag. Zentral ist dabei, dass man die Schüler und Schülerinnen beim Lesen begleitet, sich ernsthaft für ihre Lektüre und ihre Leseerfahrungen interessiert. Zu viele Kinder werden mit ihren Büchern allein gelassen. Dabei würden sie sich so gerne mit Erwachsenen austauschen, vor allem jüngere Kinder. In der Pubertät sind es dann vor allem die Gleichaltrigen. Es braucht also Erwachsene, die sich für die Lesestoffe der Kinder interessieren, die selbst auch Kinderbücher lesen und es braucht eine grosse Auswahl an unterschiedlichen Lektüreangeboten.
Im schulischen Kontext scheint es mir zudem zentral, nicht zu jedem Text Lerneinheiten vorzubereiten, die die Lesekompetenz fördern, sondern die Schülerinnen und Schüler immer wieder auch einfach die Schönheit von Texten geniessen zu lassen.
Was ist für dich ein gutes Kinderbuch?
Im Grunde genommen gelten für Kinderbücher die gleichen Kriterien wie für die Lektüren von Erwachsenen: Bücher müssen gute Geschichten erzählen. Leserinnen und Leser brauchen Figuren, in denen sie sich wiederfinden, an deren Schicksal sie sich beteiligen, an deren Glücksmomenten sie sich mitfreuen können. Ohne emotionale Beteiligung macht das Lesen von Geschichten keinen Spass.
Bei der Kinderliteratur kommt erschwerend hinzu, dass nicht alle Kinder im gleichen Alter oder der gleichen Jahrgangsstufe über die gleiche Lesekompetenz verfügen.
Früher, als ich noch meine Buchhandlung hatte, kamen oft Kinder in meinen Laden. Sie durften sich ein Buch aussuchen mit dem Gutschein von der Tante oder dem Opa. Die Frage nach dem Alter war da bei der Beratung wenig hilfreich, ich habe sie gar nicht mehr gestellt. Was mich interessierte, war die Frage nach dem letzten tollen Buch, das die Kinder gelesen haben. Da wusste ich sofort, wofür sie sich interessieren, da war auch klar, wie schwierig das Buch etwa sein darf.
Das gute Kinderbuch lässt sich vor allem dann finden, wenn man einerseits selbst diese Bücher liest, sich damit befasst, und andererseits die besonderen Interessen und die Lesekompetenz der Kinder berücksichtigt. Beim Lesen von Kinderbüchern entdeckt man selbst, wie viele ausgezeichnete Geschichten, Sachtexte und Romane es für Kinder gibt. Die Kinderliteratur ist längst keine kleine Literatur für Kleine mehr!
Vor deinem Engagement am Zentrum Lesen hast du als Primarlehrerin gearbeitet und einen Kinderbuchladen eröffnet. Was waren für dich Highlights deiner beruflichen Laufbahn?
Dass ich als junge Primarlehrerin 38 Schülerinnen und Schüler unterrichtet habe und dass diese wirklich alle lesen gelernt haben. Das war für mich ein Wunder (lacht). Oder die Kindersendungen bei Radio SRF 1, wo ich während fast 3 Jahren die Sendung «Das kleine literarische Quartett» leitete. Ich diskutierte mit jeweils vier Kindern über Bücher und habe selber dabei viel gelernt, beispielsweise wie differenziert jüngere Kinder Lektüren beurteilen können. In Erinnerung bleiben wird mir auch die Tagung «Zukunft Lesen» im Joggeli Basel 2004. Die Tagungsatmosphäre in der Fussballarena war einmalig. Oder die grosse «Pisa-Tagung» in Aarau, als die damalige Bundesrätin Ruth Dreifuss zu Gast war. Unvergessen bleiben mir auch die überaus spannenden und freundschaftlichen Begegnungen mit Autorinnen und Autoren wie Andreas Steinhöfel, Mirjam Pressler oder dem leider verstorbenen Jürg Schubiger.
Im April dieses Jahres lässt du dich pensionieren und verlässt das Zentrum Lesen. Wie sieht deine Zukunft aus? Schreibst du vielleicht selbst noch ein Kinderbuch?
Nein, der Markt ist voll mit guten Kinderbüchern. Aber es gibt noch so viel anderes, was mich interessiert, was ich noch lernen oder tun will. Ich wohne in einem uralten kleinen Haus, da gibt es immer etwas zu reparieren, in der Werkstatt zu hobeln. Ganz fest freue ich mich auch darauf, mehr Zeit für Freunde, für Begegnungen zu haben.
Ich werde aber sicher dem Kinder- und Jugendbuch weiterhin die Treue halten. Ich werde hoffentlich auch mehr Zeit zum Lesen haben. Vielleicht schreibe ich auch ein paar Buchempfehlungen. Dazu kommt ein kleiner Job im Bücherladen Appenzell, wo ich die Abteilung Kinder- und Jugendbücher betreue. Bücher zu verkaufen und zu empfehlen, das macht mir nach wie vor grossen Spass.